Im Interview erzählt Ievgen Klopotenko über seinen Wunsch, die Ukraine durch eine vergessene Esskultur, zu der auch der Borschtsch zählt, zu verändern.
Unsere Ernährung ist für die meisten von uns nicht nur ein wichtiger Bestandteil unseres alltäglichen Lebens, sondern in der Regel auch eine sehr persönliche Entscheidung. Egal ob der Gang in den Supermarkt, der Restaurantbesuch mit Freund:innen oder auf Reisen – die Vielfalt nationaler und internationaler Cuisine bereichert uns tagtäglich. Genau deshalb ist es für viele Menschen vermutlich unvorstellbar, dass in manchen Ländern klare Vorschriften herrschen, welche Zutaten auf dem Teller landen dürfen. Die Zubereitung von Essen kann Ausdruck sein von Kreativität und Freiheit. In der damaligen Sowjetunion sollte es davon so wenig wie möglich geben.
Für Ievgen Klopotenko hat der Kampf daher schon lange vor Russlands Invasion begonnen. Er wuchs auf in einem Land, dessen kulturelle Identität größtenteils im familiären Rahmen gelebt wurde. Denn die Menschen fürchteten Repressionen, wenn sie ihre Bräuche und Traditionen allzu offen auslebten. Ievgen wurde früh klar, dass er den Menschen helfen wollte, wieder mit Stolz ihre Kultur in die Welt zu tragen. Doch was mit einer Leidenschaft für Essen begann, entwickelte sich schnell zu Bewunderung im ganzen Land. Eigentlich wollte der heute international anerkannte Starkoch nie berühmt werden. Er wollte auch nie ein Restaurant eröffnen, und doch ist er zu einer Ikone der Ukraine geworden. Doch wie kam es dazu?
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Über Nacht berühmt
Nach seinem Studium der Internationalen Beziehungen arbeitete Ievgen 5 Jahre lang in der Gastronomie, doch die Liebe zum Kochen konnte er im sowjetischen System nicht ausleben. Deshalb entschied er sich dazu, eine Marmeladenproduktion zu eröffnen. Dort entging er den strengen Regeln der sozialistischen ukrainischen Gastronomie. Es passierte in dieser Zeit, dass sich die Veranstalter:innen der ukrainischen TV-Kochshow MasterChef an ihn wandten und ihn in das Format einluden. Ievgen sprach sich selbst keine großen Chancen zu, aber entschied sich dennoch für eine Teilnahme. Und diese Entscheidung veränderte sein Leben. Laut Ievgen saßen ungefähr 8 Millionen Menschen, und damit fast ein Fünftel der Bevölkerung, vor dem Fernseher, als er – wie er versichert, vollkommen überraschend – gewann.
Als er nach diesem Erfolg gefragt wurde, was er als nächstes tun würde, erklärte er aus dem Bauch heraus: „Ich möchte das Ernährungssystem in der Ukraine grundlegend verändern“ – und dieser Mission folgt er seitdem.
Im darauffolgenden Jahr begab sich Ievgen auf eine Reise durch das Land. In inspirierenden Gesprächen mit den Ältesten der Ukraine begann er zu verstehen, dass die Menschen vor allem eines fühlten: Angst. Sie konnten den Stolz auf ihre ukrainische Kultur nicht ausleben. Er wollte daher seine Popularität nutzen, um den Menschen das Vertrauen zurückzugeben.
Ähnlich wie Kevin in Home Alone nahm er ein Blatt Papier und machte einen Schlachtplan. Er stellte sich die Frage: „Wie kann ich die Ukrainer:innen davon überzeugen, ihre sowjetischen Essgewohnheiten zu überdenken und alte Traditionen wieder aufleben zu lassen?“ Die Antwort war für ihn offensichtlich: Er musste bei den Kindern in der Schule beginnen.
Die Schulkantinen und ihre Regularien zur Ernährung werden in der Ukraine von der Regierung gestaltet. Doch dort wurde er mehrfach versetzt. Deshalb entschied Ievgen sich schlussendlich für einen eigenständigen Weg. Über soziale Medien teilte er traditionelle ukrainische Rezepte, Lebensmittel und Zubereitungsmethoden. Er machte seinem Publikum Mut zur Veränderung, und das mit Erfolg.
Ievgens Geschenk: Würze des Lebens
Nun endlich von der Regierung wahrgenommen, durfte er in den darauffolgenden Jahren viele Regularien aktiv mitgestalten. Ein großer Erfolg war die Wiedereinführung von Gewürzen in der ukrainischen Küche. Nach einem fast 70 Jahre andauernden offiziellen Würzverbot, entschied die Regierung, den Menschen die kreative Freiheit beim Kochen zurückzugeben. Ievgen trug nicht nur maßgeblich zu dieser Entwicklung bei, er nahm den Menschen über die sozialen Medien auch die Angst davor, dieses Geschenk anzunehmen.
Nachdem Ievgen vermehrt von Menschen angesprochen wurde, die seine Rezepte probieren wollten, beschloss er, sein eigenes Restaurant 100 rokiv tomu vpered – vor 100 Jahren in die Zukunft – zu eröffnen. Doch trotz der Prominenz des Chefkochs sollte seine Wirkstätte kein exklusives Restaurant werden, das sich der Großteil der Bevölkerung nicht hätte leisten können. Ievgen bietet bis heute hohe Qualität für durchschnittliche Preise, die Menschen danken es ihm.
100% ukrainischer Ursprung
Und es gibt noch eine Besonderheit: Es werden zu 100 Prozent Zutaten ukrainischen Ursprungs verarbeitet. Statt schwarzem Pfeffer, Ingwer und anderen importierten Produkten kommen teils vollkommen unbekannte ukrainische Kräuter und Gemüsesorten auf den Tisch. Dadurch wolle Ievgen seine Authentizität wahren, erklärte er im Interview. Um dieser modernen Cuisine ein passendes Gesicht zu verleihen, stellte er übrigens ausschließlich die junge Generation ein – sein Chefkoch war gerade einmal 19 Jahre alt, als das Restaurant eröffnete.
Essen im Krieg: Ein Stück Normalität
Seit der Krieg gegen Russland zu Beginn des letzten Jahres begonnen hat, hat sich auch Ievgens Einstellung zur ukrainischen Kultur verändert. Laut seiner Philosophie macht die Ernährung mindestens ein Viertel der ukrainischen Kultur aus. Das läge vor allem an der Armut im sowjetischen und postsowjetischen Leben.
„Wenn du das Geld nicht hast, dann hast du zumindest das Essen. Besonders wenn es dir schlecht geht, willst du dich auf deine Wurzeln zurückberufen.“
Zudem habe er festgestellt, dass Rezepte eine Geschichte erzählen können und er den Menschen so Mut machen kann. So konnte er vielen Menschen im vergangenen Jahr ein Lächeln ins Gesicht zaubern und ermöglichen, hoffnungsvoll nach vorne zu schauen.
Sein Restaurant in Kyiv sowie ein Bistro in Lviv, das er erst während des Krieges geöffnet hat, haben seit Kriegsbeginn nicht einen Tag die Türen geschlossen. Hier können die Menschen sich ein Stück Normalität zurückholen. In Lviv entscheiden Besucher:innen selbst, ob und wie viel sie bezahlen möchten. Ievgen möchte damit auch Geflüchteten, die alles zurücklassen mussten, eine warme Mahlzeit mit der Familie ermöglichen.
Eine Ukraine, die progressiv in die Zukunft blickt
Auf Social Media teilt Ievgen seit vielen Jahren neben seinem Food Content immer wieder auch politische Beiträge. Er wünscht sich eine Ukraine, die progressiv nach vorne schaut, anstatt immerwährend im Früher zu verharren. So zeigt er stolz seine bunt lackierten Fingernägel in die Kamera und setzt damit ein Zeichen für freie Entfaltung abseits von Geschlechternormen. Er möchte damit aufklären: Das Tragen von Nagellack sagt nichts über die sexuelle Orientierung eines Menschen aus, wie es in seinen Augen viele konservative Bürger:innen der Ukraine wahrnehmen, sondern ist Ausdruck der Persönlichkeit. Ievgen ist überzeugt, seine Reputation ist stark genug, um mit Stigmen der Vergangenheit zu brechen.
Borschtsch-Liebe weltweit
Obwohl Ievgen so viel erreicht hat, gehen ihm die Ideen noch lange nicht aus. Wenn der Krieg vorbei ist, möchte er die ukrainische Kultur gerne mehr mit der Welt teilen. Eine internationale Restaurant-Kette sowie der Export ukrainischer Produkte gehören zu seinen größten Träumen. Eine Wertschätzung, wie sie das japanische Ramen international errungen hat, so etwas stelle er sich für das ukrainische Borschtsch vor.
„Momentan verbinden die Menschen mit der Ukraine vor allem den Krieg. Das wird auch noch eine Weile so bleiben. Aber eines Tages wünsche ich mir, dass sie die ukrainische Kultur kennen- und lieben lernen.“
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Ukrainischer Borschtsch – ein Rezept mit langer Geschichte
Im Sommer 2022 wurde der ukrainische Borschtsch durch das Unesco Weltkulturerbe geschützt. Dafür musste Ievgen auf 700 Seiten darlegen, warum das Gericht Kultureigentum der Ukraine ist. Borschtsch wird in einer ukrainischen Familie traditionell bis zu zwei Mal in der Woche gegessen. Außerdem trägt eine Stadt sowie viele Menschen in der Ukraine den Namen. Wir teilen mit euch Ievgens ganz persönliches Lieblingsrezept:
Ukrainischer Borschtsch (mit Schweinerippchen)
KOCHZEIT 1 Stunde 30 Minuten
8 Portionen
Zutaten:
– 400-500 g Schweinerippchen*
– 2 rote Beete Knollen
– 2 Tomaten
– ¼ Staudenselleriewurzel
– ¼ Kopf Weißkohl
– 3-4 Kartoffeln
– 1-2 Möhren
– 1 Zwiebel
– 1-2 geräucherte Trockenbirnen
– 2 Lorbeerblätter
– 3 Nelken Piment
– 1 Knoblauchzehe
– 1 süße Paprika
– 200 ml Tomatensaft
– 30 g ungesalzene Butter
– 2 Esslöffel Tomatenmark
– Salz
*Veggie-Alternative:
Statt der Schweinerippchen könnt ihr auch 400 g Räuchertofu oder eine Fleischalternative nach Wahl hinzugeben. Bratet diese einfach zusammen mit dem Gemüse in der Pfanne an.
Anleitung:
Den Ofen auf 200 Grad vorheizen. Die Schweinerippchen in einer ofenfesten Form etwa 30 Minuten backen, bis sich eine goldene Kruste bildet. In der Zwischenzeit die Sellerieknolle waschen und grob hacken. Sie muss nicht geschält werden. Schneidet die Karotten in etwa gleich große Stücke wie den Sellerie. Die gebackenen Rippchen in einen großen Topf geben, etwa 3 Liter Wasser hinzufügen. Die Sellerie- und Karottenstücke sowie eine halbe ungeschälte Zwiebel hinzufügen. Zum Kochen bringen und bei mittlerer Hitze etwa 30 Minuten kochen lassen.
Bereitet in der Zwischenzeit die sautierte Gemüsebasis vor – sie gibt jedem Borschtsch die Extranote. Die Paprika in Würfel schneiden. Die Tomaten und die andere Hälfte der Zwiebel fein würfeln.
Erhitzt die Butter in einer Pfanne und dünstet das Gemüse, bis es weich wird. 200 ml Tomatensaft und etwa 2 Esslöffel Tomatenmark hinzufügen und weitere 5-7 Minuten kochen.
Eine rote Beete Knolle mit einer Küchenreibe raspeln. Zum sautierten Gemüse geben und weitere 3-4 Minuten kochen lassen.
Mit einer Küchenmaschine mit Entsafter-Aufsatz den Saft der anderen rote Beete Knolle auspressen (alternativ könnt ihr sie auch einfach mit dem feinen Aufsatz der Küchenreibe reiben). Den rote-Bete-Saft oder das Püree und das Gemüse zusammen mit den Rippchen und dem Sellerie sowie dem Piment und den Lorbeerblättern in den Topf geben. Nach Geschmack salzen.
3-4 Kartoffeln waschen und schälen.
Grob würfeln und mit dem Rippensud in den Topf geben. Die Knoblauchzehe halbieren und ebenfalls in den Topf geben.
Den Kohl zerkleinern und beiseite stellen – wir werden ihn erst ganz zum Schluss in den Borschtsch geben.
Wenn ihr möchtet, könnt ihr dem Borschtsch zu diesem Zeitpunkt auch weiße Bohnen aus der Dose hinzufügen.
Gebt die geräucherten Trockenbirnen in den Topf. Sie verleihen dem Borschtsch ein wunderbares Raucharoma.
Wenn alle Zutaten durchgekocht und weich sind, gebt den zerkleinerten Kohl in den Topf. Weitere 5 Minuten kochen lassen und den Borschtsch vom Herd nehmen. Lasst ihn mindestens eine halbe Stunde lang ruhen, bevor ihr ihn mit saurer Sahne und fein gehacktem Dill serviert. Bewahrt den Borschtsch im Kühlschrank auf und denkt daran, dass er über Nacht noch leckerer wird.