Mit 63 Jahren wurde der bisher älteste HIV-Patient im Juli vergangenen Jahres nach einer Stammzelltransplantation in Kalifornien geheilt. Was bedeutet das für die zukünftige Aidsforschung?
Der bisher älteste HIV-Patient, bekannt als “City of Hope – Patient”, wurde in Kalifornien nach einer Stammzelltransplantation geheilt. Um seine Identität anonym zu halten, ist er unter dem Namen des gleichnamigen Hospitals City of Hope Institute in der Öffentlichkeit namhaft geworden. Er war der vierte Patient, bei dem diese Form der Behandlung anschlug. Die Fortschritte in der Medizin wecken Hoffnung für Menschen, die mit dem Virus infiziert sind.
Aktuelle Chancen zur Heilung
“Als ich 1988 mit HIV diagnostiziert wurde, dachte ich, das ist mein Todesurteil”, sagte der Patient gegenüber der Washington Post. Er habe nicht geglaubt, den Tag erleben zu dürfen, an dem er als geheilt gelten würde. Doch genau das ist nun passiert: Drei Jahre nach der Stammzelltransplantation wurde seine Heilung im Juli 2022 auf der Aids Conference in Montreal publik gemacht. Damit wächst die Hoffnung für weitere Betroffene.
HIV ist die Abkürzung für Humanes Immundefizienz-Virus, welches das Immunschwächesyndrom Aids hervorrufen kann. In Deutschland sind etwa 90.000 Menschen an HIV erkrankt, weltweit sind es 38,4 Millionen. Die Krankheit gilt bis heute als unheilbar, da keine Methode die Viren vollständig eliminieren kann. Jedoch gibt es mittlerweile erfolgversprechende Therapien, die die Lebenserwartung der Patient:innen um ein Vielfaches steigern.
Die gängigste Methode ist die sogenannte antiretrovirale Therapie (kurz: ART-Therapie). Sie ist eine Kombinationstherapie, bei der eine Vielzahl antiviraler Medikamente eingesetzt werden, um die Vermehrung des Virus an verschiedenen Stellen zu unterdrücken. Umgangssprachlich spricht man daher auch vom “Aids-Cocktail”. Durch die ART-Therapie wird die Ausbreitung des HI-Virus im Blut dauerhaft gehemmt. Im besten Fall kann die Lebenserwartung der betroffenen Patient:innen dadurch inzwischen der von gesunden Menschen entsprechen. “Menschen mit HIV können heute leben, lieben und arbeiten wie alle anderen”, unterstreicht die deutsche Aidshilfe.
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Der City of Hope-Patient, der seine Identität gegenüber der Öffentlichkeit anonym halten möchte, wurde über 31 Jahre mit dem “Aids-Cocktail” therapiert und ist damit der HIV-Patient, welcher die Therapie weltweit am längsten erhielt. Erst im Jahr 2021, nach seiner Stammzelltransplantation, beendete er die ART-Therapie.
Leider sind Langzeitnebenwirkungen wie die Entwicklung von Diabetes und hohen Blutfettwerten bei dieser Therapiedauer nicht auszuschließen. Auch die Bildung von Krebs, insbesondere Blutkrebs, nach Jahren in der ART-Therapie ist nicht untypisch. Laut Jana Dickter, klinische Professorin in der Abteilung von Infektionskrankheiten im City of Hope Krebsinstitut in Duarte (Kalifornien), beträgt die Wahrscheinlichkeit für eine Krebserkrankung bei den Patient:innen, die langfristig therapiert werden, bis zu 69 Prozent.
Der Heilungsweg des City of Hope-Patienten
So erging es auch dem City of Hope-Patienten. Infolge der langjährigen Therapie erkrankte er an Leukämie. An diesem Punkt wurde eine Stammzelltransplantation zur Option, denn aufgrund des Risikos wird die Operation erst in Ausnahmefällen wie diesen überhaupt in Betracht gezogen. Nun musste eine geeignete Stammzelle für den Patienten gefunden werden, eine erfolgreiche Suche. Die Person, die die Stammzellen spendete, war nicht mit dem Empfänger verwandt, doch die Stammzellen passten – und waren noch in anderer Hinsicht ganz besonders: Sie waren mutiert.
Diese Mutation, die in etwa einem von hundert Menschen auftritt, war das entscheidende Schlüsselelement. Sie ermöglichte es, dass neben dem Blutkrebs gleichzeitig auch das HI-Virus bekämpft werden konnte. Denn die homozygotische CCR5 delta 32 Mutation der Stammzelle stoppt die Vermehrung des Virus. Doch was bedeutet das?
In einfachen Worten kann man es so erklären: Das Hauptziel eines Virus ist es, zu überleben. Dafür versucht es, in Zellen einzudringen, um in ihnen “bewirtet” zu werden. Bevor ein Virus eindringt, dockt es an den Rezeptoren außerhalb einer Zelle an. Aufgrund der seltenen Mutation der Stammzellen, welche dem City of Hope– Patienten transplantiert wurden, verfügten die Zellen nicht über diesen Rezeptor und konnten von den HI-Viren nicht infiziert werden. Das Virus breitete sich folglich nicht weiter aus und remittierte. Remittieren ist das vorübergehende Nachlassen einer Krankheit. Dabei sind die Symptome meist gestillt oder vorerst nicht aktiv.
Ist die Heilung für Aids entdeckt?
Die Geschichte des nunmehr fünften von Aids geheilten Patienten weckt die Hoffnung, dass durch medizinische Fortschritte bald die Mittel geschaffen werden könnten, um die Krankheit im großen Stil bekämpfen zu können.
Der City of Hope-Patient ist bis heute gesund. Die behandelnden Ärzt:innen erklärten ihren Patienten im Sommer 2022, dreieinhalb Jahre nach der Transplantation, unverändert als viren- und krebsfrei.
“Er sah viele seiner Freunde in den frühen Tagen der Krankheit an Aids sterben und war so stark stigmatisiert, als er 1988 mit HIV diagnostiziert wurde. Aber jetzt kann er diesen medizinischen Meilenstein feiern. Wir können keine Beweise dafür finden, dass sich HIV in seinem System repliziert.“
– Jana Dickter, klinische Professorin in der Abteilung von Infektionskrankheiten im City of Hope Krebsinstitut in Duarte (Kalifornien)
Nicht die erste Heilung
Nur eine Handvoll Menschen konnten bisher durch eine Stammzelltransplantation von HIV geheilt werden. Mit 63 Jahren zum Zeitpunkt des Eingriffs ist der City of Hope-Patient der Älteste unter ihnen. Bereits 2007 fand die erste erfolgreiche Transplantation an der Charité in Berlin statt, der “Berliner Patient” schrieb Medizingeschichte als erster Mensch, der von HIV geheilt wurde. Im Jahr 2019 folgte der “Londoner Patient”, im Jahr 2022 “Die New Yorker Patientin”. Zuletzt wurde die Heilung des Düsseldorfer Patienten im Februar 2023 im Fachjournal Nature Medicin bekannt gegeben. Nachdem der Düsseldorfer Patient 2013 mit der Stammzelltransplantation an der Universitätsklinik Düsseldorf behandelt wurde, ist er seit 2018 frei von Leukämiezellen und HI-Viren. Von allen Patient:innen hat nur der “Berliner Patient”, Jahre nach der erfolgreichen OP seine Identität bekannt gemacht. Timothy Brown blieb bis zu seinem Tod im Jahr 2020 virenfrei. Er starb an dem Wiederkehren seines Blutkrebses, welcher kein zweites Mal bekämpft werden konnte.
Alle fünf Fälle verbindet diese Zweitdiagnose: Krebs. Die Stammzelltransplantation wurde nicht aus HIV-Gründern, sondern zur Bekämpfung der jeweiligen Krebserkrankung eingesetzt. Die betreuenden Ärzt:innen sind sich jedoch vorerst einig: Für HIV-Patient:innen ohne Krebserkrankung ist die Stammzelltransplantation zu riskant. Aber warum? Komplikationen und Risiken sind wie bei allen medizinischen Eingriffen ein maßgeblicher Faktor bei der Entscheidungsfindung der passenden Heilungsmethode. Behandelnde Ärzt:innen werden vor große Entscheidungen gestellt und müssen rational urteilen, ob die Gefahren vor dem Tod größer als die Chancen zur Heilung sind.
Ein langer Weg
Dass die Behandlung des City of Hope – Patienten ein Einzelfall ist und nicht die Norm, liegt darin begründet, dass eine Stammzelltransplantation hochriskant ist und schwerwiegende Komplikationen verursachen kann. Auch der City of Hope – Patient brauchte mehrere Therapien, bevor der Eingriff schließlich durchgeführt werden konnte.
Vor der Transplantation muss der Patient in eine Remission des Blutkrebses gebracht werden. Remission bedeutet in der Medizin die vorerstige oder vollständige Abschwächung der Symptome einer chronischen Krankheit. Der City of Hope – Patient erhielt drei verschiedene Therapien, um seinen Krebs in Remission zu bringen und mit der Transplantation fortschreiten zu können.
Die Mediziner:innen des Krebsinstituts beobachteten mit Freude, dass weniger aggressive Chemotherapien reichten, um den Patienten auf die Transplantation vorzubereiten. Dickter betont auf der Website des Krankenhauses: “Wir haben nun Beweise dafür, dass wir, wenn die richtigen Stammzellspender:innen für an Blutkrebs erkrankte HIV-Patient:innen gefunden werden, mit neueren und weniger intensiven Chemotherapie-Optionen versuchen können, eine duale Remission zu erreichen. Das könnte für ältere Patienten mit HIV und Blutkrebs völlig neue Möglichkeiten eröffnen.”
Wenn es auch eine sehr spezifische Gruppe Menschen ist, die von den neuen Ergebnissen profitieren, was letztendlich zählt ist der Erfolg. Es ist einer der kleineren Erfolge, die Hoffnung machen, dass wir das große Ziel durch immer neue Fortschritte in der Medizin letztendlich erreichen.
Die Stammzelltransplantation
Die Chemotherapie ist aber nur ein Schritt auf dem Weg zur Heilung des Patienten. Für die angestrebte Stammzelltransplantation brauchte es weitere Vorgänge.
Eine weitere Hürde auf dem Weg zur HIV-Bekämpfung ist die Stammzellspende. Es braucht eine passende Spende für die Stammzelltransplantation, so wie auch 2019 für den City of Hope – Patienten. Geeignete Stammzellen zu finden ist selten und Stammzellen mit der benötigten Mutation zu finden noch seltener. Nach Angaben des City of Hope Krebsinstituts, tritt die nötige Mutation bei ein bis zwei Prozent der Gesamtbevölkerung auf – und das weltweit. Dass die passende Stammzelle für den City of Hope-Patienten zudem außerhalb seiner Familie gefunden werden konnte, ist ein riesiger Glücksfall – oder Schicksal, das mag jede:r selbst entscheiden.
Sollte die Heilungsmethode der Stammzelltransplantation im großen Stil ausgebaut werden, ist es unmöglich, nur auf die Spender:innen zu zählen, auch weil die Stammzelldatenbanken derzeit zu wenig Beteiligte haben. Eine Alternative, die in die Debatte mit aufgenommen wurde, ist die Genmanipulation. Was wäre, wenn die Mutation einfach “hergestellt” werden könnte?
Steven Deeks, Professor der University of California in San Francisco, war bereits Teil des Teams, das die Operation zur Heilung des “Berlin-Patienten” durchführte. Er sieht in der Genmanipulation der Stammzellen kein Problem, wie er gegenüber der Washington Post erklärt. Im Labor sei es nicht schwer, über ein Gen-Editing-Tool den Rezeptor auszuschalten, welcher es dem HI-Virus ermöglicht, in die Zellen einzudringen. Jedoch wird die Arbeit dann komplex, wenn es darum geht, das Ganze im menschlichen Körper auszuführen. Es müsse weiter geforscht werden, wie die richtigen Zellen im Körper erreicht werden, um sicherzustellen, dass unerwünschte Auswirkungen auf andere Gene ausbleiben.
Der letzte Schritt der Transplantation ist die Implantation. Dabei werden Stammzellen aus dem Knochenmark des Spenders oder der Spenderin entnommen und in die Blutbahn der empfangenden Person eingesetzt. Dieser Vorgang erfordert das vorherige Zerstören der Tumorzellen im Knochenmark durch Chemotherapien oder Bestrahlung. Nur so können die neuen Stammzellen “empfangen” werden. Dieses Vorgehen birgt hohe Risiken: Zehn bis 15 von 100 Patient:innen überleben die Transplantation nicht, da der Körper die nicht-körpereigenen Stammzellen abstößt. Im Idealfall gelangen die transplantierten Blutzellen nach Implantation in das Knochenmark des empfangenden Patienten und produzieren neue, gesunde Blutzellen. Danach kann das Leben mit einem neuen Immunsystem beginnen.
Grund zur Hoffnung
Wie so oft ist in Bezug auf die Heilung des HI-Virus durch Stammzellen die Theorie einfacher als die Praxis. Aber die Heilung des City of Hope-Patienten macht ihrem Namen alle Ehre. Gibt sie doch Hoffnung – und stärkt noch dazu die wissenschaftliche Grundlage, um HIV besser zu bekämpfen. An vielen HIV-Kliniken auf der Welt wird intensiv geforscht, um mit den Erkenntnissen der Transplantation eine Methode zu entwickeln, die höhere Erfolgsquoten und ein niedrigeres Risiko aufweist. Der Fall aus Kalifornien war ein maßgeblicher Fortschritt für Menschen, die mit HIV und Blutkrebs leben.
Unter Nutzung ihres Fachwissens in der zellulären Immuntherapie haben die Wissenschaftler von City of Hope auch chimäre Antigenrezeptor (CAR)-T-Zellen entwickelt, die HIV-infizierte Zellen anvisieren und abtöten. Sie arbeiten daran, eine klinische Studie mit der CAR-T-Zelltherapie zu starten, die das Potenzial hat, HIV-Patienten eine lebenslange Virusunterdrückung ohne ART-Therapie zu bieten.
Es zeigt sich: Parallel wird intensiv an mehreren Methoden zur Heilung des Virus gearbeitet und Fortschritte bleiben nicht aus. Die fünf “Wunderfälle” der oben aufgeführten Patient:innen waren Aufschluss, Motivation und Hoffnung zugleich für die HIV-Forschung und bieten wichtige Grundlagen und wegweisende Erkenntnisse, die in Zukunft in die Heilung weiterer kranker Menschen einfließen werden. Auch an anderen Stellen der Aidsforschung eröffnen Forschungserkenntnisse immer neue Möglichkeiten zur immer besseren Behandlung des Virus. So veröffentlichte erst Anfang des Jahres ein Forscherteam aus Kanada Ergebnisse einer Studie zur Latenz des HI-Virus, die dazu führen können, dass dieses in Zukunft noch früher entdeckt und behandelt werden kann. Das Ziel aller Anstrengungen ist dabei klar – ein langfristiges Heilmittel finden. Die Hoffnung darauf wächst, denn Fälle wie der des City of Hope-Patienten zeigen einmal mehr: Medizin ist in stetiger Bewegung – und dabei stets nach vorn.