Selten waren die Pflege-Missstände so in den Medien vertreten wie in den letzten zwei Jahren. Ein junges Start-up aus Berlin zeigt, wie die Zukunft der Betreuung aussehen könnte.
Innovation entsteht immer dann, wenn Missstände erkannt und Lösungen gesucht werden. So war es auch bei Alessandro Nobbe und seinem Gründungsteam der Helferbären Berlin. Die Suche nach Pflegekräften für Angehörige gestaltete sich komplizierter als die drei Gründer:innen Alessandro, Leonard und Cassandra zuerst dachten, also nahmen sie es selbst in die Hand.
Wir haben mit Alessandro über das Konzept der Helferbären gesprochen und die so einfache wie auch innovative Idee dahinter.
Good News Magazin: Das vielleicht Wichtigste zuerst – was ist euer Alleinstellungsmerkmal?
Alessandro Nobbe: Dass wir vor allem mit Studierenden arbeiten und diese jede einzelne Person, die von ihnen betreut wird, persönlich kennen. Beim klassischen Pflegedienst gibt es keine feste Bezugsperson. Bei uns hingegen kommt immer dieselbe und zum Erstgespräch lernen wir sowohl die Familie als auch die Lebensgeschichte kennen. Uns ist es wichtig, nicht nur zu wissen, was gebraucht wird, sondern auch: Was wird gewollt? Dazu muss man das ganze Umfeld kennen.
GNM: Und das unterscheidet euch von anderen Pflegediensten?
Alessandro: Ja, der Großteil der klassischen Pflegedienste geht nach dem Bedarf der Pflegebedürftigen vor. Auch wir helfen im Haushalt oder beim Einkaufen. Aber darüber hinaus schauen wir, was die betreute Person möchte. Wir wollen eine Vertrauensbasis schaffen und damit Interessen fördern und Wünsche erfüllen und eine gute Gesellschaft für die Person sein.
GNM: Man liest sehr oft von Pflegenotstand – wie bewerkstelligt ihr dennoch eine so individuelle Betreuung?
Alessandro: Normalerweise macht ein Pflegedienst-Leiter den Betreuungs-Plan für einen Monat. Bei uns läuft das anders, die Mitarbeitenden tragen viel Eigenverantwortung in ihrem flexiblen Zeitmanagement. Wir bleiben zwar in ständigem Austausch mit ihnen, aber es obliegt den Einzelnen, die Termine und Einsätze zu planen.
GNM: Wie genau sehen eure Leistungen aus?
Alessandro: Wir sind ein ambulanter Dienst und bieten Haushaltsunterstützung wie Putzen, Kochen oder Haustiere versorgen an, stehen als Begleitung zum Arzt, Einkaufen oder auch zu Veranstaltungen bereit und leisten vor allem Gesellschaft. Die medizinische Pflege und Grundpflege decken wir aktuell nicht ab, da unser Team zum Großteil aus Studierenden besteht – und nicht aus medizinischem Fachpersonal.
GNM: Wie kam es zu dieser Zusammensetzung des Teams?
Alessandro: Die Arbeit mit Studierenden ist einer der Grundpfeiler unseres Konzepts. Wir haben aktuell circa 150 Helferbären, für die es meist ein Zuverdienst zum Studium ist. Das heißt natürlich, dass viele nach dem Studium nicht mehr hauptamtlich helfen können, weil sie einen Vollzeitjob finden, aber das Schöne ist, dass die nachbarschaftlichen Verbindungen zu den Pflegebedürftigen oft über das Arbeitsverhältnis anhält und aus der Betreuung Freundschaften und fast familiäre Beziehungen erwachsen.
GNM: Wie viel Zeit neben dem Studium muss man für den Job bei euch einplanen?
Alessandro: Wir sind zeitlich sehr flexibel und passen uns eher an die Mitarbeitenden an. Ab zwei Stunden pro Woche bis Open-End ist die Arbeit bei uns möglich. Der Kollege, der am meisten arbeitet, schafft aktuell 140 Stunden im Monat. Er hat einst als Minijobber angefangen, aber so viel Freude bei der Arbeit gehabt, dass es jetzt schon ein Vollzeitjob ist.
GNM: Wie wird man Helferbär?
Alessandro: Wir orientieren uns bei unseren Bewerber:innen ähnlich wie bei den zu Pflegenden an den Interessen, den Fähigkeiten und dem Wohnort. Dann schauen wir nach Klient:innen mit einem ähnlichen Profil in der Nähe. Vielleicht ist es Kunstgeschichte, die beide begeistert oder beide kochen gern. Wir suchen nach einer gemeinsamen Grundlage und wollen Vertrauen aufbauen. Wenn es passt, wird ein erster Termin ausgemacht und wenn es dann funkt, werden Helferbär und Klient:in “gematcht”.
GNM: Das klingt ein wenig wie ein Pflege-Tinder?
Alessandro: (lacht) So kann man das womöglich sehen, ja. Das Matchen nach Interessen ermöglicht es uns, dass wir Menschen aus verschiedenen Generationen zusammenbringen und Vertrauen schaffen. Ein Beispiel ist ein Klient, welcher früher leidenschaftlich an seiner Modelleisenbahn tüftelte, dies aber aufgrund seiner Parkinson Erkrankung nicht mehr kann. Für ihn haben wir einen Maschinenbauingenieur gefunden, der nun mit ihm zusammen an seiner Eisenbahn baut. In unseren Matches können stets beide gegenseitig voneinander profitieren. Das ist keine Einbahnstraße, sondern auch die Jungen können von den Alten viel mitbekommen. Wenn z.B. ein gemeinsamer Background in Studium und Arbeit besteht, unterstützen die Erfahreneren auch jobtechnisch gern mit Rat und Tat.
GNM: Die Idee klingt so simpel, aber doch hört man von solchen Konzepten bislang noch nicht viel. Wie seid ihr darauf gekommen?
Alessandro: Wir hatten die gleiche Situation im Gründungsteam wie viele unserer Kund:innen: Wir suchten alle drei eine Betreuung für Angehörige oder Bekannte. Man bekommt eine ewig lange Liste zum Durchtelefonieren, doch ganz oft deckten die Dienste nur einen Teil-Bereich der Leistungen ab, die wir brauchten. Es gab keinen, der ein Gesamtkonzept anbot. Also dachten wir uns, machen wir es eben selbst.
GNM: Kommt ihr denn selbst aus dem Pflegebereich, sodass euch dieser Schritt leichtfiel?
Alessandro: Nein, gar nicht. Vielleicht waren wir nur in der Lage das zu verändern, weil wir eben nicht aus dem Bereich kommen. Ich selbst habe Geologie studiert und bin somit ganz weit entfernt von der Pflege. Wir waren einfach naiv genug, da ran zu gehen und nach einer Veränderung zu suchen – denn der Grundgedanke kam einfach aus einem Missstand. Natürlich haben wir uns professionelle Hilfe dazu geholt, denn wir hatten zum Glück eine gute Bekannte, die lange Pflegedienst-Leiterin und Qualitäts-Managerin war. Sie konnte uns viele Tipps gegeben und das Konzept mit uns aufbauen, da es viele Qualitäts-Richtlinien gibt, an die man sich halten muss.
GNM: Und wie seid ihr dann so gewachsen, dass ihr mittlerweile 150 Helferbären habt?
Alessandro: Die ersten Anfragen kamen aus dem Freundes- und Bekanntenkreis und dann entwickelte es sich relativ schnell durch Mundpropaganda in ganz Berlin. Wir erhielten bald Empfehlungen von Pflegekassen und -stützpunkten. Mittlerweile sind wir in Berlin, Brandenburg, Hamburg und Leipzig vertreten und haben knapp 600 betreute Personen – plus weitere 100, die uns nur sporadisch oder projektbezogen brauchen.
GNM: Wollt ihr weiter wachsen oder sogar ein Franchise einführen?
Alessandro: Wachsen ja, aber ein Franchise wollen wir nicht. Der Helferbär soll den persönlichen und umsichtigen Charakter aus dem Anfangsstadium beibehalten. Das heißt für uns auch, dass jede:r Standortleiter:in vorher in der Betreuung bei uns gearbeitet haben muss. Das Konzept kommt gut an und wir sehen überall Bedarf, allerdings sind wir an die von Bundesland zu Bundesland unterschiedlichen Gesetze gebunden, an die wir unser Konzept immer ein Stück weit anpassen müssen. Wir möchten aber bald unsere Unterstützung deutschlandweit anbieten.
Bilder: Helferbär