Wie könnten solche Stellhebel aussehen? Phänomene, die wir sehen: Organisationen, Firmen und politische Systeme, Ressourcenausbeutung, soziale Un- gleichheit und Klimawandel, aber auch Naturschutzorga- nisationen, Social Start-ups und das Good News Magazin. Diese Phänomene entstehen aus dem komplexen Zusam- menspiel von Einzelinteressen — also einzelnen Indivi- duen, Organisationen, Kommunen, Firmen, Industriever- bänden und vielen mehr. All diese und ihre Interak- tionen zu verstehen und zu analysieren, ist natürlich ein Ding der Unmöglichkeit. Die Kunst liegt in der Vereinfachung. Simuliert man ein komplexes System, geht es nicht darum, alle Details möglichst gut abzu- bilden, sondern zu verstehen, welche Eigenschaften der Agenten wesentlich sind, um das emergente Phä- nomen zu reproduzieren. Vögel haben selbstver- ständlich noch andere Verhaltensweisen als die drei Re- geln, die wir oben diskutiert haben — doch die drei Regeln reichen aus, um die Schwarmdynamik zu reproduzieren. Die Betrachtungsweise hilft uns also zu verstehen, was in der ganzen Komplexität wesentlich ist und wo die wichti- gen Stellhebel für Veränderung liegen. Ein gutes Beispiel sind Fir- men und potentielle neue Ge- schäftsmodelle. Ob eine Firma erfolgreich ist oder nicht, hängt von einer Vielzahl an Faktoren ab. Manche davon liegen allein im Produkt — also z.B. ob ein neues Elektroauto fährt, qualitativ hoch- wertig ist und wenig Reklamationen hat. Andere ergeben sich aus der Interaktion mit Stakeholdern — also z.B., ob die Kunden auch E(cid:28)Autos nachfragen, ob genug Ladeinf- rastruktur bereitgestellt wird, ob die besten Mitarbeiten- den in Unternehmen arbeiten wollen, die E(cid:28)Autos herstel- len, ob Investoren dafür finanzielle Mittel bereitstel- len oder ob Regierungen in ihren jeweiligen Ländern den Absatz von Elektrofahrzeugen fördern oder ihm eher im Weg stehen. Versteht man die vorwiegende Art der Individualmo- bilität als emergentes Phänomen, so kann man sich nun fragen: Was bräuchten Automobilhersteller, in dem Geflecht der Stakeholderinteressen, in dem sie sich bewegen, um mit dem Bau von E(cid:28)Fahrzeugen erfolgreich zu sein? Ein wesentlicher Faktor, den man ableiten kann, ist die Planungssicherheit. Ent- wicklung und Umbau von Produktions- stätten sind aufwändig. Dies ergibt nur Sinn, wenn klar ist, dass sich dies lang- fristig auszahlt — und nicht in zehn Jahren E(cid:28)Fahrzeuge durch die Re- gulatorik aus dem Markt gedrängt werden, weil z.B. auf Wassersto(cid:31) 36 Good News Magazin gesetzt wird. Gleiches gilt für die Kunden — auch für diese ergibt der Erwerb eines E(cid:28)Autos nur Sinn, wenn klar ist, dass die Infrastruktur weiter ausgebaut wird. Fragt man sich also als mutiger CEO, der auf E(cid:28)Fahrzeuge umsteigen möchte, was dafür am besten zu tun ist, so ist Lobbyismus für einen verlässlichen regulatorischen Rahmen ein we- sentlicher Hebel. Wie würdest du die Regeln und den jetzigen Zustand in Bezug auf Nachhaltigkeit nach dieser Logik beschrei- ben? Das ist eine sehr umfangreiche Frage, auf die ich nicht die eine Antwort habe. Unsere Welt be- steht aus unzähligen Subsyste- men mit einer Anzahl an Inter- essen und Wirkmechanismen, die den Überblick einer einzel- nen Person weit übersteigt. Genau deshalb halte ich für so wichtig, die „Komplexe-Systeme-Brille“ zu verbreiten — so kann jeder in den Systemen, in denen er agiert, verste- hen, welche Interessen aufeinandertre(cid:31)en, welche emer- genten Phänomene entstehen, und wo die mächtigsten Hebel für Veränderungen liegen würden. Wichtig ist auch hervorzuheben, welche Diversität wir in unserer Gesellschaft erleben. Auf der einen Seite gibt es Individuen, die einfach nur ihre Eigeninteressen in den Vordergrund stellen und so dazu beitragen, dass skrupel- loser Raubbau an unseren Ökosystemen betrieben wird, fossile Energieträger weiter abgebaut werden, mit der Per- spektive „mir wird der Klimawandel schon nicht schaden“, oder dass sich die Schere zwischen Arm und Reich weiter ö(cid:31)net. Auf der anderen Seite gibt es ganz viele Individuen, die ein alternatives Leben nicht nur propagieren, sondern leben — und so die Samen setzen dafür, dass sich dieses auch auf gesamtgesellschaftlicher Ebene durchsetzt. Das klingt so, als läge die Verantwortung allein bei den Individuen. Ist es nicht eine Illusion, dass man als einzelner Bürger oder einzelne Bürgerin etwas erreichen kann in einem komplexen politischen und wirt- schaftlichen System? Die Frage nach Verantwortung ist spannend. O(cid:31)ensichtlich reicht es nicht, wenn jeder „ge- wöhnliche Bürger“ — also je- mand, der vielleicht durch seine Konsumentscheidungen, durch die Wahl seines Arbeitgebers und durch politische Beteili- gung Einfluss nehmen kann, aber sonst nur begrenzt Ent- scheidungen im System beein- flussen kann — nachhaltige Entscheidungen tri(cid:31)t, wäh- rend diejenigen, die in Machtpositionen sind, weiterma- chen wie bisher. Begreift man Verantwortung als „wer muss etwas tun“, so halte ich es folglich für gefährlich, diese auf das Individuum abzuschieben. Versteht man Verantwortung jedoch als Möglichkeit zur