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Ja, Liebe rockt! Aber hier seht ihr das ASL-Handzeichen für Liebe – „I ❤ Y“ – kombiniert die Buchstaben I, L und Y der American Sign Language zu einer einzigen, leicht verständlichen Geste. Mit ausgestrecktem kleinen Finger, Zeigefin- ger und Daumen zeigt es auf einen Blick: „Ich liebe dich“. Seine klare Symbolik und einfache Form machen es weltweit populär, besonders in sozialen Medien, in der Popkultur und im internationalen Austausch. Das Zeichen ver- mittelt Zuneigung und kann Menschen über Sprach- und Kulturgrenzen hinweg verbinden.
Vorwort Ihr Lieben, … was ist Liebe? Gerade berührt mich diese Frage so sehr, dass ich nur beim Darüber-Nachdenken weine. Ich bin heute Tante geworden und die Liebe zu meiner Schwester und dem kleinen Wesen, das ich ja noch gar nicht „kenne“, ist so stark. Auch wenn uns gerade 9000 km physisch trennen, auch wenn wir als Familie Höhen und Tiefen erlebt haben, in manchen Momen- ten ist alles egal – dann fühlen wir nur eins: Liebe. Liebe ist fundamentaler Bestandteil unseres Lebens, doch können wir sie wirklich erklären? Biologisch ge- sehen machen diese Gefühle sicher Sinn – gerade wenn es um Familie geht. Enge Bindungen erhöhen seit jeher die Überlebenschancen von Menschen und ihren Gruppen. Durch Nähe, Kooperation und gegen- seitige Fürsorge entsteht Sicherheit. Doch Liebe ist mehr als das. Unsere eigenen Erfahrungen, aber auch Geschichten und Erzählungen von Menschen (und Tieren! s. S. 75) zeigen uns das: Liebe ist nicht die Abwesenheit von Angst, sondern die Entscheidung, sich trotz Unsicherheiten, trotz Zö- gern oder Risiko zu öffnen – wieder und wieder, die Form von Liebe, die wir bewusst wählen, erfordert manchmal auch Mut. Und manchmal sprechen wir nicht mal die gleiche „Sprache der Liebe“ (S. 28). Aber ich versuche gar nicht in einem kurzen Vorwort, dieses riesige Thema weiter einzugrenzen oder über- haupt zu verstehen. Ich möchte lieber das Gefühl (oder die Emotion, wie unser GoodNews Thought- Autor sagen würde s. S. 12) und die Artikel, die wir dazu geschrieben haben, für sich sprechen lassen: Von Selbstliebe (S. 78) über Trauer (S. 22), von Heimatliebe (S. 32) über Fernbeziehungen (S. 46). Von Liebe trotz Gegensätzen (S. 10), zwischen Generationen (S. 43), ohne Romantik (S. 38, 64) oder queerer Liebe (S. 90) Liebe wird auf so vielfältige Weise gefeiert, gerade jetzt in der Weihnachtszeit, dem „Fest der Liebe“ in vielen Teilen der Welt, wird uns das bewusst. Aber Feste der Liebe gibt es viele – in vielen Kulturen (S. 50) – und Liebe ist dabei oft das bewusste Wahrnehmen, das Teilen, das Mitfühlen und das bewusste Gestalten. Im Grunde ist jede positive Nachricht eine Form von Liebe. Sie erinnert uns daran, dass Hoffnung, Wärme und Menschlichkeit existieren, dass es Mut braucht, sich zu öffnen, und dass wir alle Teil dieses unsicht- baren Netzes von Nähe und Mitgefühl sind. In dem Sinne; viel Freude beim Lesen und Alles Liebe, Lucia und das GNM-Team m o c . l h s a p s n u - S a n a i L : d l i B Beim Good News Magazin arbeiten wir daran, dass alle Menschen teilhaben können, und bemühen uns um Barrierefreiheit. Das ganze Magazin gibt es darum auch online und zum Anhören. Die Quellen der einzelnen Artikel findet ihr ebenfalls über die QR-Codes.
t l a h n I Empathie, mentale Gesundheit und Tierbewusstsein Wie Schulen das Miteinander neu lehren Wie Maryam die Liebe zum Leben wiederfand Das Leben ist ein Fluss … Aus Vorurteilen wird Verständnis Wenn Liebe den Horizont erweitert Wie wir das alte Drehbuch prüfen und ein wärmeres schreiben: verlässlich, frei, zugewandt. Zuhause in der Liebe – und Liebe als Zuhause Der Verlust geliebter Menschen Was ist Trauer, wenn nicht Liebe, die andauert? Klimaschutz ist beliebter als gedacht Natur: Die große Liebe der Deutschen Die verschiedenen Sprachen der Liebe Was sich liebt, das… spricht Mit Engagement und Fürsorge gestalten junge Menschen ein neues Rumänien Dracula und Ceausescu sind Vergangenheit Das Glück sozialer Bindungen Freundschaft: das stille Fundament unseres Lebens Wunsch-Großeltern im Dienst Ein Gewinn für alle Generationen Wie Fernbeziehungen heute gelingen Weit weg und trotzdem ganz nah Eine Reise zu Festen der Liebe weltweit Wenn ein Faden mehr sagt als tausend Worte Ein liebevoller Blick auf Familie in all ihren Formen In Our Families Ein Gespräch über aromantische Lebensrealitäten „What is Love?“ – Viel mehr als Romantik Wie Pride-Flaggen für Sichtbarkeit, Solidarität und Selbstbestimmung stehen Bunt bleibt politisch Kleine, große Liebesgeschichten aus der Tierwelt Fünfmal „einfach schön“ Fidel Strub über den steinigen Weg zur Selbstliebe Sich selbst zumuten Best of Wie SEKEM in Ägypten die Wüste begrünt Wirtschaft der Liebe Beispiele aus der Historie der Menschheit „Queere“ Liebesgeschichte(n) 3 6 10 12 22 26 28 32 38 43 46 50 54 64 70 75 78 84 86 90
e i t h d n e i n u s s t a l e G e s s e w u n t b r h i e , m e d T i e n t a u E m p m o c . s o t o h p t i s o p e d - v o n o f a S _ r e d n a x e A l : d l i B m o c . s o t o h p t i s o p e d - f a e l i c g a m : k fi a r G r e n n d e e n r h u l i n a h e c e S W i e t s M i d a n e u l Immer mehr Schulen setzen auf Fächer, die mehr vermitteln als Formeln und Fakten. Im Mittelpunkt stehen Werte wie Empathie, seelische Gesundheit und Verantwor- tungsbewusstsein gegenüber anderen Lebewesen. So wird Bildung zu einem Raum, in dem Kinder lernen, mit sich und ihrer Umwelt achtsam umzugehen. Antonia Rüller Viele Kinder tragen mehr mit sich herum als nur volle Schulranzen. Der Druck, gute Noten zu schreiben, das Gefühl, im Wettbewerb zu stehen, Mobbing in der Schule oder die Angst vor einer ungewissen Zukunft – all das gehört für viele zum Alltag. Gleichzeitig besteht eine neue Sehnsucht nach Achtsamkeit, Nachhaltig- keit und echtem Zusammenhalt. Genau hier setzen neue Unterrichtsfächer an: Sie geben Raum für Empa- thie, stärken das Selbstvertrauen und machen jedes Kind in seiner Einzigartigkeit sichtbar. Mentale Gesundheit als Unterrichtsfach In Österreich wird derzeit erprobt, wie Schule ausse- hen kann, wenn psychisches Wohlbefinden fest zum Lehrplan gehört. Im Fach „Selbstentwicklung“ lernen Schüler:innen, wie man Stress bewältigt, Gefühle be- nennt und psychische Belastungen entstigmatisiert. Laut einem Bericht des Magazins Kontrast berichten Jugendliche aus dem Pilotprojekt, dass sie gelernt ha- ben, gelassener mit Stress und Emotionen umzugehen. Auch Lehrkräfte betonen, wie wertvoll dieser neue An- satz sei – sie erleben, dass Gespräche über Gefühle im Unterricht selbstverständlicher werden und dass das Vertrauen zwischen Schüler:innen und Lehrpersonen wächst. Ähnliche Programme entstehen derzeit auch in ande- ren Ländern: In Dänemark ist „Empathy Class“ bereits seit Jahren Teil des Curriculums, und in Großbritan- nien, Kanada oder Australien rücken Achtsamkeit und mentale Gesundheit zunehmend in den Mittelpunkt. Solche Initiativen zeigen, wie weltweit ein neues Ver- ständnis von Bildung wächst – eines, das emotionales Lernen nicht als Zusatz, sondern als Grundlage für ein gesundes Aufwachsen begreift. Good News Magazin 3
direkte Auswirkungen auf das Sozialverhalten von Kindern hat. Wenn Schüler:innen lernen, Tiere als füh- lende Lebewesen wahrzunehmen, entwickeln sie Em- pathie – eine Fähigkeit, die sich später auch auf den Umgang mit Menschen überträgt. Im Unterricht geht es nicht nur um biologische Fakten wie Lebensräume oder Ernährung, sondern auch um Gefühle, Bedürfnisse und Rechte von Tieren. Kinder sprechen darüber, was es bedeutet, Verantwortung für ein Haustier zu übernehmen, welche Rolle Tiere in Ökosystemen spielen und warum der Schutz von Arten so wichtig ist. Durch praktische Beispiele – etwa den Besuch von Tierheimen, das Beobachten von Nutztie- ren oder Exkursionen in die Natur – wird diese Pers- pektive greifbar. „Es ist wichtig, das Einfühlungsver- mögen der Kinder zu fördern. Wir hoffen, dass sie durch die Tiere auch mehr Empathie für Menschen entwickeln. Denn Mobbing in Schulen hat ein ziemlich großes Ausmaß erreicht“, sagte Raluca Baleanu laut Utopia. Damit wird deutlich, dass der Gedanke weit über Tierschutz hinausgeht: Kinder sollen lernen, sen- sibel mit Schwächeren umzugehen – egal, ob es sich um ein Tier oder einen Mitschüler handelt. Auch die Tierärztin Oana Vasiliu betont, wie wichtig die direkte Erfahrung ist: „Wenn man ihnen Bilder zeigt oder sie im Fernsehen etwas über Tierrechte sehen, be- rührt sie das oft nicht. Aber bei einer direkten Interak- tion mit den Tieren bleibt noch eine emotionale Kom- ponente“, erklärte sie im Gespräch mit RTL. Genau dieses Erleben schafft nachhaltige Eindrücke – etwas, das sich mit Büchern oder Videos allein kaum erreichen lässt. Das Fach „Tierbewusstsein“ macht also deutlich: Tiere sind nicht bloß Objekte des Unterrichts, sondern Mitgeschöpfe, von denen Kinder lernen können, was Fürsorge, Rücksicht und Verantwortung bedeuten. m o c . s o t o h p t i s o p e d - y i k s t e v o h k r e V r u t r A : d l i B m o c . s o t o h p t i s o p e d - k c o t s o r c m r e k o r b e g a m i i : d l i B Empathie und Mitgefühl lernen Auch in Rumänien gibt es spannende Entwicklungen. Dort wurde ein neues Unterrichtsfach eingeführt, das Empathie mit Erdkunde verbindet. Die Idee dahinter: Kinder sollen nicht nur trockene Fakten über Länder und Kontinente lernen, sondern gleichzeitig auch, wie Menschen in anderen Teilen der Welt leben – mit wel- chen Herausforderungen, Hoffnungen und Traditionen. So wird das Schulfach zu einer Brücke zwischen Wissen und Haltung. Wenn im Unterricht über ein bestimmtes Land gesprochen wird, geht es nicht nur um Haupt- städte, Flüsse und Berge. Lehrkräfte sprechen auch da- rüber, wie Kinder dort aufwachsen, welche Unter- schiede und Gemeinsamkeiten es im Alltag gibt und wie man trotz aller Unterschiede einander mit Respekt be- gegnen kann. Das schärft das Bewusstsein für Vielfalt und legt die Basis für Mitgefühl und Solidarität. Ein besonderer Fokus liegt darauf, Perspektivwechsel zu üben. Kinder sollen sich vorstellen, wie es wäre, in einem anderen Umfeld groß zu werden, und lernen, andere Sichtweisen einzunehmen. Genau das ist der Kern von Empathie: die Fähigkeit, sich in andere hin- einzuversetzen. Gleichzeitig werden Werte wie Hilfs- bereitschaft, Fairness und gegenseitige Verantwortung besprochen – Eigenschaften, die für ein friedliches Miteinander entscheidend sind. Lehrkräfte berichten, dass die Schüler:innen durch die- sen Ansatz offener und neugieriger aufeinander reagie- ren. Aus einem reinen „Länder- und Kartenfach“ wird so ein Fach, das Herz und Verstand gleichermaßen an- spricht. Es vermittelt geografisches Wissen, erweitert aber auch die soziale Kompetenz und bringt Werte wie Respekt und Mitgefühl direkt in den Schulalltag. Tiere als Mitgeschöpfe verstehen Besonders innovativ ist in Rumänien auch das neue Fach „Tierbewusstsein“. Dahinter steckt die Überzeu- gung, dass der Umgang mit Tieren nicht nur Wissen über Natur und Umwelt vermittelt, sondern auch 4 Good News Magazin
Schule als Ort für Persönlichkeitsentwicklung Ob in Wien, Bukarest oder anderswo: All diese neuen Ansätze haben eines gemeinsam – sie verändern den Blick auf Schule. Weg vom reinen Auswendiglernen hin zu einem Ort, an dem Kinder nicht nur Wissen auf- nehmen, sondern auch lernen, mit sich und anderen in Beziehung zu treten. Schule wird damit zu einem so- zialen Erfahrungsraum, der weit über Prüfungen und Noten hinausgeht. Dass dieser Perspektivwechsel dringend nötig ist, zeigen zahlreiche Studien. For- schungen des Yale Center for Emotional Intelligence und der Organisation für wirtschaftliche Zusammen- arbeit und Entwicklung (OECD) belegen, dass soziales und emotionales Lernen – kurz SEL – nicht nur das Wohlbefinden, sondern auch die Lernleistungen deut- lich verbessert. Kinder, die früh lernen, Konflikte kons- truktiv auszutragen oder Mitgefühl zu entwickeln, zei- gen langfristig weniger Stress, stabilere Beziehungen und bessere Schulleistungen. Eine Untersuchung der University of Chicago ergab sogar, dass sozial-emotio- nale Kompetenzen ein verlässlicherer Indikator für Er- folg im späteren Leben sind als reine Fachnoten. Hinzu kommt: Bildungsexpert:innen weisen seit Jah- ren darauf hin, dass Schule ohnehin vor allem ein Ort des sozialen Lernens ist. Nur rund 20 Prozent des Ge- lernten bleiben inhaltlich hängen – der weitaus grö- ßere Teil prägt, wie Kinder mit anderen umgehen, sich behaupten oder scheitern dürfen. Betrachtet man Lehrpläne unter diesem Aspekt, wirkt vieles überholt: zu starr, zu kognitiv, zu wenig lebensnah. Dabei zeigt die Forschung klar, dass dort, wo Beziehung und Selbstkompetenz gestärkt werden, auch Wissen nach- haltiger verankert bleibt. Herausforderungen und Chancen So vielversprechend die neuen Unterrichtskonzepte sind – sie bringen auch Herausforderungen mit sich. Wer Themen wie mentale Gesundheit, Empathie oder Achtsamkeit in den Lehrplan integrieren will, muss be- stehende Strukturen überdenken. In ohnehin vollen Stundenplänen braucht es Raum für Neues – und Lehr- kräfte, die darauf vorbereitet sind. Dafür sind gezielte Fortbildungen nötig, damit Pädagog:innen solche The- men kompetent und sensibel vermitteln können. Ein Blick nach Deutschland zeigt, wie groß die Hürden noch sind. Laut der Gewerkschaft Erziehung und Wis- senschaft (GEW) fehlen bundesweit rund 15.000 Lehr- kräfte. Neue Fächer ließen sich daher nur einführen, wenn es gelingt, zusätzliche Fachkräfte zu gewinnen oder Weiterbildungsprogramme auszubauen. Hinzu kommt: Bildung ist in Deutschland Ländersache – jedes Bundesland müsste also eigene Beschlüsse fassen, um Fächer wie „Mentale Gesundheit“ oder „Tierbewusst- sein“ tatsächlich im Lehrplan zu verankern. Gleichzeitig überwiegen die Chancen. Europäische Projekte wie PROMEHS (Promoting Mental Health at Schools) zei- gen, dass sozial-emotionales Lernen nicht nur das Klima in der Schule verbessert, sondern auch die Lern- leistungen steigert. Kinder, die sich sicher fühlen und lernen, mit Stress umzugehen, können sich besser kon- zentrieren. Empathie-Übungen fördern das Miteinan- der, aber auch Kreativität und Teamfähigkeit – Fähig- keiten, die später im Berufsleben entscheidend sind. Langfristig könnten solche Fächer weit über den Unterricht hinaus wirken: weniger Mobbing, weniger Ausgrenzung, mehr Zusammenhalt. Schule würde so zu einem Ort, an dem der Grundstein für eine solidari- sche, resiliente Gesellschaft gelegt wird. Ein Blick in die Schule der Zukunft Stellen wir uns eine Schule vor, in der Mathe, Ge- schichte und Englisch mit Unterricht in Achtsamkeit, Empathie und Tierbewusstsein Hand in Hand gehen. In solchen Lernräumen üben Schüler:innen nicht nur Zahlen und Fakten, sondern lösen in Rollenspielen Konflikte, sprechen offen über Gefühle und gönnen sich Pausenräume, die mehr sind als nur Orte zum Es- sen – sie sind Oasen zum Durchatmen und Reflektie- ren. Solch eine Vision teilen bereits Lehrende und Schüler:innen alternativer Schulen, die heute ähnlich arbeiten und berichten, wie sich das Miteinander ver- ändert. Viele dieser Einrichtungen sind privat – doch sie geben einen Vorgeschmack darauf, wohin sich Schule entwickeln könnte. Ein spannender Aspekt kommt aus dem Norden Euro- pas: In Dänemark etwa wird Empathie bereits seit den 1990er Jahren systematisch im Unterricht verstärkt thematisiert. Außerdem zeigt die Forschung aus Nord- Europa, dass Schüler:innen nicht nur Inhalte lernen, sondern vor allem durch das soziale Lernen geprägt werden. Eine norwegisch-schulische Studie spricht davon, dass ein ganzheitliches Verständnis von „Well- being“ in Schulen zwingend notwendig ist – also ein Ansatz, bei dem Wohlbefinden, Selbstkompetenz und Beziehung im Zentrum stehen. Wenn man betrachtet, wie stark solche Komponenten in den Lehrplänen bis- lang fehlen, wirkt vieles überholt. Aber genau das macht Hoffnung: Schulen könnten in Zukunft nicht nur Wissen vermitteln, sondern gezielt Persönlichkei- ten formen, die Verantwortung übernehmen, empa- thisch handeln und auf sich selbst vertrauen. Good News Magazin 5
DAS LEBEN IST EIN FLUSS … WIE MARYAM DIE LIEBE ZUM LEBEN WIEDERFAND Die Iranerin Maryam, heute 42 Jahre alt, hat als migrantische Al- leinerziehende viele Irrungen und Wirrungen erlebt, bis sie in Deutsch- land endlich in einem Beruf arbeiten konnte, den sie liebt und mit dem sie für sich und ihren Sohn ihr Le- ben bestreiten kann. Warum das nicht nur ein großes Glück ist, son- dern auch mit Politik und der Stif- tung Alltagsheld:innen zu tun hat, erfahrt ihr auf den nächsten Seiten. Aber der Reihe nach. ANNE WINTERLING Maryam, Sie sind aus Liebe nach Deutschland gekommen, bekamen einen Sohn, die Beziehung ging auseinander und Sie waren allein für Ihren Sohn verantwortlich. Als ich nach Deutschland kam, war ich 29 und im Kopf noch ein kleines Mädchen. Ich habe hier viele Erfahrungen gesammelt, durch die ich eine andere Seite meiner Persönlichkeit kennen- gelernt habe. Ich wollte nie Kinder bekommen, weil ich immer gedacht habe, man muss richtig darauf vorbereitet sein oder Pläne haben. Mein Sohn war ungeplant, aber durch seine Geburt habe ich eine andere Frau in mir kennenge- lernt, die stark ist und ohne Hilfe ein Kind großziehen kann. Womit ich nicht gerechnet habe, war, dass es hier so schwierig ist, beruflich Fuß zu fassen. Im Iran haben Sie eine gute Bildung genossen. Ja, ich bin das jüngste Kind in der Familie, und meine Eltern wollten, dass ich mich um meine Bildung und meine Hobbys kümmere. Ich habe Cartoons gezeich- net, sechs Jahre Volleyball gespielt, und Deutsch hat m a y r a M : d l i B 6 Good News Magazin
mich schon durch meine Kindheit begleitet. Wir ha- ben deutsche Kindersendungen geguckt, erst auf Vi- deo, später mit Satellitenfernsehen. Ich habe Deutsch studiert und hatte einen Hochschulabschluss. Leider hat man mir hier in zwei Beratungsstellen gesagt, dass dieser Abschluss nicht anerkannt wird. Ich war noch nicht lange in Deutschland und habe diesen Aussagen vertraut. Das muss eine große Enttäuschung gewesen sein. Ja, stattdessen empfahlen mir meine Beraterinnen, mich in der Tages- und Abendschule anzumelden und das Abitur nachzuholen. Ich bin dann tatsächlich in einen sechsmonatigen Vorkurs und danach in die neunte Klasse gegangen, das muss man sich mal vor- stellen. Ich musste noch einmal ganz von vorn anfan- gen. Ich hatte immerhin einen Kita-Platz für meinen Jungen, stressig war es trotzdem. Gut war, dass ich da- durch das deutsche Bildungssystem kennengelernt habe, aber es war auch Zeitverschwendung. Außerdem wollte ich nicht von Sozialhilfe und dem Jobcenter ab- hängig sein, aber das ging nicht. Ich habe insgesamt neun Jahre gebraucht, bis ich endlich in einem Beruf gelandet bin, der meinen Fähigkeiten entspricht und mir Spaß macht. Was war der Game-Changer? Ich habe beim Verein MA.i – das steht für Migration und Arbeitswelt – erfahren, dass ich meinen Bachelor in Deutschland anerkennen lassen kann. Als ich ihn schließlich hatte, war ich unendlich dankbar. Nur im Jobcenter konnte man nichts mit mir anfangen und wollte mich von einer Maßnahme zur nächsten schi- cken. Ich fühlte mich in einer Sackgasse, bis mir die Frauen von der Hilfsorganisation Migrafrica Mut gemacht haben: „Du bist eine starke Frau, du schaffst das.“ Das hat mir geholfen, aktiv zu werden: Ich habe eine Fortbildung zur Integrations- und Sprachmittlerin, außer- dem einen Zusatzqualifikationskurs für Lehr- kräfte gemacht. Und als Dolmetscherin arbeite ich auch manchmal. Sie leiten jetzt Integrationskurse für Deutsch und unterrichten andere Migrant:innen – sind Sie stolz? Ja, ich fühle mich endlich als Teil der Gesellschaft. Ich liebe meinen Beruf – und natürlich meinen Sohn. Für mich ist „DIE STADT IM HINTERGRUND IST MEIN LAND. DER KOPF DARAUF IST MEINER, UND DIE AMEISEN STELLEN MEINE GEDANKEN UND SORGEN IN DEUTSCHLAND DAR. ABER DER FINGER HÄLT MICH FEST, DAMIT ICH NICHT FALLE.“ es ein Geschenk, mein Wissen weiterzugeben und den anderen als Nicht-Muttersprachlerin Mut zu machen. Wenn ich mich am Abend vorher auf meinen Unter- richt vorbereite, ist das Nahrung für die Seele. Das Le- ben ist für mich ein Fluss, der mich jetzt an ein Ufer getrieben hat, an dem ich glücklich bin. Welche Wünsche haben Sie für die Zukunft? Ich komme mir manchmal vor wie ein Roboter. Ich stehe morgens um halb fünf auf, weil ich zu meinen Integrationskursen eine weite Strecke zurücklegen muss. Und mein Sohn braucht mich ja auch. Dazu noch all der Alltagskram, Behördengänge … Das ist viel. Ich würde gerne wieder zeichnen, mein Traum war früher, Illustratorin für Kinderbücher zu werden. Und ich würde mich gerne einbürgern lassen. Good News Magazin 7
Was die Geschichte Maryams mit Politik und der Stiftung Alltagsheld:innen zu tun hat Die gemeinnützige Stiftung Alltags- held:innen (alltagsheldinnen.org) setzt sich dafür ein, migrantischen Allein- erziehenden wie Maryam und ihren Kin- dern eine selbstbestimmte Zukunft zu er- möglichen. Zusammen mit der Hochschule Düsseldorf hat die Stiftung eine zweijährige Studie zu ihrer Situation in Nordrhein-Westfa- len initiiert und gefördert. Maryam war Studienteil- nehmerin und gewährte in Tiefeninterviews Einblick in ihr Leben als migrantische Alleinerziehende. Wie auch an ihrer Geschichte zu sehen, ist die Teilhabe migrantischer und geflüchteter Alleinerziehender an Gesellschaft, Arbeitsmarkt und Bildung erheblich eingeschränkt. Gleichzeitig erhalten sie wenig Unterstützung in Beratungsstellen, die angesichts komplexer aus- länderrechtlicher Regelungen weder sprachlich noch inhaltlich ausreichend unterstützen können. Mit der Studie werden kommunalen Verwaltungen, Ministerien, Politik und Beratungsstellen erstmals Daten zugäng- lich gemacht, die ein tiefer gehendes Verständnis der Lage von eingewanderten Alleinerziehenden ermöglichen. So könnten mehr angepasste Unterstützungsmaßnahmen entstehen, die diese besonders vulnerable Gruppe erreichen, und Barrieren beseitigt werden, die echte Teilhabe verhindern. Etwa 100 Vertreter:innen aus Politik, Sozialer Arbeit und Verwaltung sowie Betroffene selbst diskutierten auf einer Fachtagung im September 2025 über die Ergebnisse der Studie. Als Essenz daraus soll in Kürze ein Policy-Paper der Stiftung mit Handlungsempfehlungen an Politik und Beratungsstellen erscheinen – ein echtes Novum. Darüber hinaus fördert die Stiftung Alltagsheld:innen schon seit zwei Jahren gezielt beispielhafte Projekte und baut Lotsen-Netzwerke zwischen relevanten Einrichtungen und Initiativen auf, etwa mit dem im Inter- view erwähnten Verein Migrafrica. Sie unterstützen migrantische und geflüchtete Alleinerziehende bei- spielsweise beim Einstieg in den Arbeitsmarkt, etwa durch individuelle Beratung, Teilzeitausbildungen oder flexible Betreuungsmodelle. Vor allem aber bestärken sie Frauen darin, selbstbewusst ihren Weg zu gehen. Denn in Zukunft soll es nicht dem Zufall überlassen bleiben, dass sich eine Geschichte wie die von Maryam doch noch zum Guten wendet. „Wenn man eine Entscheidung trifft, mag der Weg schwierig, voller Hindernisse oder Kurven sein, aber schließlich kommt man ans Ziel. Manchmal führt er quer, manchmal geradeaus. Aber jeder kommt ans Ziel.“ MARYAM 8 Good News Magazin
ALLTAGSHELD:INNEN IST EINE VERBRAUCHSSTIFTUNG, DIE AUF UNTERSTÜTZUNG ANGEWIESEN IST. EURE SPENDE STÄRKT ALLEINERZIEHENDE! Good News Magazin 9
Aus Vorurteilen wird Verständnis Wenn Liebe den Horizont erweitert m o c . s o t o h p t i s o p e d - r e v t n a k : d l i B Glaubenssätze formen unsere Welt. Oft trennen sie uns von anderen Menschen und wirken unumstößlich. Doch ist das wirklich so? Drei Geschichten zeigen, wie tiefe Gräben überwunden und Brücken gebaut werden können. Die Kraft dahinter: Liebe. Wie oft haben wir dieses Szenario schon in Filmen ge- sehen: Zwei Personen aus verfeindeten Lagern lernen sich kennen und kommen sich näher. Geheime Treffen häufen sich und eine Beziehung im Verborgenen bahnt sich an. Leider wird aus aufregender Spannung bittere Realität: In einem intimen Moment werden sie er- wischt, alles fliegt auf – und schnell werden sie wieder auseinandergetrieben. Doch es gibt Hoffnung: Men- schen im Hintergrund setzen sich für sie ein und die Mauern beginnen zu bröckeln. Das Ergebnis ist die große Versöhnung: Das Pärchen findet wieder zuein- ander und die einst verfeindeten Parteien stoßen ge- meinsam mit einem Bier an. In der Realität unvorstellbar, oder? Oder eben nicht. Denn vielleicht ist das große Finale nicht ganz so kit- schig und dramatisch wie im Film. Und ja, leider ver- laufen solche Geschichten in der Realität auch nicht immer glücklich – immer wieder bleibt ein Bekenntnis zur Liebe ein Risiko, das schmerzliche Folgen haben kann. Jedoch gibt es gleichzeitig Geschichten, in denen Liebe – sei es zum Partner oder zur Partnerin, zu den Kindern oder zu Freund:innen – zum Katalysator für neue Lebensansichten werden kann. Besonders span- nend wird es, wenn die aufeinanderprallenden Pers- pektiven kaum unterschiedlicher sein können. Steckt vielleicht doch Wahrheit in der abgedroschenen Phrase, dass Liebe alle Grenzen überwinden kann? Dennis Scheck Rechtsextremer Politiker verlässt Partei für seine Beziehung Der polnische Politiker Dawid Szóstak, bislang Mitglied der rechtsextremen Partei Konfederacja, und das Mo- del Michalina Manios machten Ende August 2025 öf- fentlich, dass sie ein Paar sind. Das Besondere daran: Manios, bekannt durch die Teilnahme an der Casting- show Top Model. Zostań modelką, ist inter*. In ihrer Kindheit und Jugend wurde sie als Junge erzogen – und fühlte sich in dieser Geschlechterrolle, wie sie sagt, „wie im Gefängnis“. An ihrem 18. Geburtstag erstritt sie sich schließlich vor Gericht das Recht, als Frau anerkannt zu werden. Szóstaks Partei hingegen gilt als queerfeindlich. 2019 wollte sie in einer Parlamentssitzung ein Gesetz vorschlagen, welches LGBT „verbieten“ sollte. Kennengelernt haben sich die beiden auf einer Online- plattform. Sie teilen den katholischen Glauben und den Respekt vor Traditionen – zugleich beschreiben sie sich als offen, tolerant und wertschätzend. Szóstak erkannte schnell, dass die Überzeugungen seiner Par- tei im Kontrast zu seiner Beziehung standen – und zog Konsequenzen: Er trat aus der Partei aus. Offen bleibt dabei, ob die beiden in einer katholischen Kirche heiraten können. Szóstak zeigt sich optimis- tisch: „Es gibt nichts, was uns davon abhält, in einer Kirche zu heiraten. Es gibt keine Restriktionen. Micha- lina ist eine Frau“. 10 Good News Magazin
In Polen, wo eine große Spaltung zwischen konservati- ven und liberalen Kräften vorherrscht, kann die Ge- schichte ein Hoffnungsschimmer sein. Sie zeigt, dass Dialog und persönliche Begegnungen Brücken schla- gen können. Vielleicht ist dieses Beispiel sogar ein An- fang: Die zunehmende Sichtbarkeit von queeren Per- sonen im konservativen Umfeld könnte langfristig neue Debatten über Selbstbestimmung und Akzeptanz anstoßen. Abgeordneter aus Oregon wechselt Partei nach Outing seines Sohns Der Abgeordnete des US-Bundesstaates Oregon Cyrus Javadi war lange Mitglied der Republikanischen Partei – bis sich sein Sohn als schwul outete. Die konservati- ven Ansichten sowie die zunehmende Radikalisierung der Partei machten es Javadi schwer, seine Familie und die Parteilinie in Einklang zu bringen. Sein Sohn war nun Teil einer Community, die in den USA derzeit im- mer stärker unter Druck gerät. Besonders deutlich wurde der Widerspruch für Javadi, als seine Partei ein Verbot von Schulbüchern mit LGBTQ+-Inhalten unterstützte. Diese Politik, so Ja- vadi, raube seinem Sohn – und anderen Kindern, die zu Minderheiten gehören – die Möglichkeit, sich in Ge- schichten wiederzufinden. Javadi nahm dies zum Anlass, Konsequenzen zu zie- hen – er wechselte zur Demokratischen Partei. Bücher, die sich mit Geschlecht oder Sexualität befassen, seien laut ihm ein Ausdruck von Meinungsfreiheit. „Sich gegen diese Art von Zensur zu wehren, hat nichts da- mit zu tun, ‚woke‘ zu sein. Es geht darum, Amerika- ner:in zu sein“, so Javadi. Sein Parteieintritt habe weni- ger damit zu tun, dass die Demokraten „perfekt“ seien. Viel mehr ginge es darum, „die Rechte von Minder- heiten zu schützen“. Pastor wird aus Liebe zu seinem Sohn Anführer einer LGBTQ+ - Bewegung 2015 war ein herausforderndes Jahr für die Familie White: Der damals 15-jährige Timothy outete sich als schwul. Für seinen Vater Bill, einen evangelikalen Pas- tor, war das zunächst ein Schlag. Evangelikale Gläubige leben das Christentum sehr konservativ – sie legen die Bibel wörtlich aus und haben ein klares Bild davon, was sie als richtig oder falsch sehen. Homosexualität war für Bill etwas, das nicht mit dem Christentum vereinbar ist. Man müsse sie, so glaubte er, „wegbeten“. Traditionelle Vorstellungen von Liebe Schon ein Jahr vor Timothys Geburt war für Bill klar, dass sein Sohn einmal eine Frau heiraten würde. Er schrieb eine Notiz an Timothys Zukünftige: „Du bist eine liebe, liebe Frau für mich und [meine Frau] Katy. Wir lieben dich. Wir freuen uns darauf, dich kennenzu- lernen. Wir werden über die Jahre für dich beten.“ Mit Timothy’s Outing brachen diese Pläne und Träume in sich zusammen. Bill warf sich vor, durch eine „schlechte Erziehung“ an der Homosexualität von Ti- mothy „mitschuldig“ zu sein und fürchtete, dass Timo- thy keinen Zugang mehr zu seinem Glauben findet. Doch gleichzeitig bewunderte er den Mut seines Soh- nes, sich in diesem strikten Umfeld zu öffnen. Die Be- ziehung zu seinem Sohn war ihm wichtiger als theolo- gische Debatten oder sozialer Druck. Schritt für Schritt begann er, seine Glaubenssätze zu hinterfragen – und von seinem Sohn zu lernen, statt seine sexuelle Orien- tierung zu verurteilen. Dies kommunizierte er offen gegenüber seiner Gemeinde. Die Reaktionen fielen ge- mischt aus: Einige unterstützten ihn, andere kehrten der Kirche den Rücken. Doch Bill blieb konsequent. Es war ein langer Prozess, seinen Glauben mit der Liebe zu seinem Sohn in Einklang zu bringen – aber ein letztlich erfolgreicher: Mittlerweile ist Bill Pastor der weltoffe- nen City Church of Long Beach in Kalifornien. Dazu ist er Mitbegründer der gemeinnützigen Organisation Small Church Big Table, die die Inklusion der LGBTQ+- Community in Kirchen erleichtert. Sowohl er als auch Timothy teilen ihre Geschichte öffentlich, um anderen Familien in ähnlichen Situationen zu helfen. Timothy selbst hatte anfangs Angst, aus der Kirche verstoßen zu werden. Doch das Coming out habe sei- nen Glauben mit der Unterstützung seines Vaters nur noch mehr gefestigt. Timothy sagt rückblickend: „So vieles davon entstand aus Liebe zu mir.“ Was können wir aus den Geschichten mitnehmen? Unterschiedlichkeit kann uns bereichern – vorausge- setzt, man zeigt Bereitschaft, sich zu öffnen. Schon eine Annäherung kann ein guter erster Schritt sein, um mehr Verständnis füreinander zu entwickeln. In manchen Fällen führt sie sogar zu einer völligen Kehrtwende. Dabei sind die gezeigten Beispiele nur ein Ausschnitt. Auch abseits der Öffentlichkeit – ob in Familien, im Freundeskreis oder im Job – öffnen sich immer wieder Menschen mit festen Traditionen neuen Lebensrealitä- ten. Liebe spielt dabei häufig eine wichtige Rolle – mal als Auslöser, mal als Beschleuniger eines Wandels. m o c . s o t o h p t i s o p e d - n i t e c h C i : d l i B Good News Magazin 11
Wie wir das alte Drehbuch prüfen und ein wärmeres schreiben: verlässlich, frei, zugewandt. Zuhause in der Liebe – und Liebe als Zuhause Warum tut Liebe manchmal weh – und warum lohnt sie sich trotzdem? Vielleicht, weil wir noch alten Drehbüchern folgen – Geschichten, die uns sagen, wie Nähe „richtig“ zu sein hat. Doch Liebe lässt sich neu erzäh- len. Sie ist kein Ziel, sondern ein Raum, der entsteht, wenn wir ihn gemeinsam betreten – ob zu zweit, zu dritt, als Wahlfamilie oder jenseits fester Formen. Was bleibt, ist das tiefe Bedürfnis nach Verlässlichkeit. Was wächst, ist die Vielfalt der Wege, auf denen wir sie leben. Vielfalt erweitert unsere Möglichkeiten, damit jede Verbindung passend werden kann – ob tradiert monogam, hetero, queer, poly, ob als Patchwork- oder Wahlfamilie. Dieser Text sammelt Spuren davon, wie Beziehungen heute verlässlich, frei und warm gelingen können – ohne irgendein Modell abzuschaffen. Dr. André Latz 12 Good News Magazin m o c . s o t o h p t i s o p e d - i y v o z o L w e r d n A : d l i B
m o c . s o t o h p t i s o p e d - u c s e n o a t e o c n i l i : d l i B Good News Thought André Latz ist Soziologe, Dozent und systemischer Coach. Er beschäftigt sich seit vielen Jahren mit Fra- gen der Persönlichkeitsentwicklung, Führung, Ethik und demokratischen Bildung – und damit, was Men- schen wirklich verbindet. In diesem Artikel geht er einer Frage nach, die ihn fachlich und persönlich beschäftigt: Was ist Liebe jen- seits der kulturellen Drehbücher? Warum sehnen wir uns nach Nähe – und wieso scheitern wir so oft da- ran, sie zu leben? Welche Rolle spielen dabei unsere Körper, unsere Geschichten, unsere Gesellschaft? Und was kann uns die Forschung heute sagen über gelingende Beziehungen, Vertrauen und Zugehörig- keit – als Grundlage für ein Leben in Verbindung mit uns selbst und anderen?“ 1. Einmal große Liebe, bitte — mit allem drum und dran? Wir alle kennen diesen Moment: Zwei Menschen bli- cken sich an, die Kamera zoomt, die Herzen schlagen schneller — und wir denken: So muss sich Liebe an- fühlen. Der Kuss im Regen, der letzte Tanz im Kerzen- schein, das Happy End im Kinosaal, wir finden diese vertrauten Bilder nicht nur auf der Leinwand. Sie schwirren durch Popsongs, durch Bücher, durch Wer- bung, durch Instagram-Posts von Hochzeiten und ro- mantischen Gesten. „Once in a lifetime love“, „für im- mer und ewig“ — das sind die Versprechen, mit denen viele von uns groß geworden sind. Und so messen wir unser eigenes Beziehungsleben immer wieder an die- sem verinnerlichten Soundtrack unserer Gesellschaft. Doch wenn wir ehrlich sind, sieht die Realität oft an- ders aus. Liebe spielt sich zwischen Alltag und Müdig- keit ab — beim Wäscheaufhängen, beim Tomatenaus- suchen im Supermarkt. Und gerade dort entsteht manchmal etwas sehr Intimes: ein Blick, eine kleine Geste, ein leises ‚Ich hab an Dich gedacht‘. Was aber, wenn wir an dieser Vorstellung – ob groß in- szeniert oder klein im Alltag – gar nicht erkennen, was Liebe wirklich ist, sondern nur, was wir über sie gelernt haben? Was, wenn wir beim Suchen nach Nähe und Beziehung oft einem inneren Drehbuch folgen, das wir nie selbst geschrieben haben? Die Kultursoziologin Eva Illouz beschreibt genau diese Falle: „Weitverbreitete Bilder der Liebe können zu dem Gedanken verleiten, dass anderen eine Liebe geglückt ist, die uns versagt blieb, und dass eine ge- glückte Liebe für ein erfolgreiches Leben normativ von Bedeutung ist.“ Diese Normativität wirkt subtil und mächtig zugleich. Sie flüstert uns ein, dass eine „richtige“ Beziehung so und nicht anders auszusehen habe. Dass man eine:n Partner:in in einer romantischen Beziehung haben müsse, um vollständig zu sein. Dass eine glückliche Liebe gleichzeitig aufregend, verlässlich, leidenschaft- lich und lebenslang sein müsse. Das alles macht es schwer, sich selbst nicht zu vergleichen. Wir erleben Schmerz als reale Erfahrung – Zurückweisung, Ent- fremdung, Verlust. Doch kulturell haben wir gelernt, diesen Schmerz als notwendigen Bestandteil von Liebe zu deuten. Als müsste Nähe erst wehtun, um wahr zu sein. So wird aus einer menschlichen Erfah- rung ein Erwartungsskript. Darin liegt aber auch etwas sehr Positives: Da ‚Liebe‘ ein kulturelles Skript ist, ist es auch veränderbar. Wir können das Drehbuch nicht nur spielen — wir können es umschreiben. Rollen streichen, Figuren hinzufügen, neue Szenen entwerfen. Kulturelle Prägungen hinter- fragen bedeutet nicht, Romantik abzuschaffen — im Gegenteil. Es heißt, sie zu verändern: menschlicher, ehrlicher und vielleicht auch wärmer zu machen. Was bleibt: Nähe, Verlässlichkeit, Zugehörigkeit. Was sich ändert: die Freiheit, wie wir sie gestalten. Good News Magazin 13
Wir können das Drehbuch nicht nur spielen — wir können es umschreiben Wenn wir über Liebe und Bindung sprechen, sprechen wir immer auch über Zuhause – nicht als Immobilie, sondern als Gefühl. Als Ort der Verlässlichkeit im In- neren, nicht nur im Außen. Deshalb lohnt es sich, auch über das Zuhause neu nachzudenken – als Teil unserer Beziehungserfahrungen, nicht als Nebenschauplatz. Und auch dort gibt es ein kulturelles Drehbuch: das Eigenheim mit Gartenzaun, die perfekt eingerichtete Wohnung, die ‚heile Familie‘ als Idealbild. Magazine, Möbelhäuser und Werbespots erzählen uns, wie das aussehen soll — ein Wohnzimmer im skandinavischen Stil, ein Esstisch voller lachender Gäste, ein Schlafzim- mer, das immer aufgeräumt ist. Doch nicht alle finden sich in diesem Skript wieder. Manche erleben Zuhause im Chaos einer WG-Küche, andere in einem stillen Arbeitszimmer, wieder andere auf Reisen oder bei einem Abend mit Freund:innen. Daniel Schreiber beschreibt das so: „Historisch und kulturell mag das, was wir als ‚Zuhause‘ verstehen, je nach Epoche, Land und Gesellschaftsform unter- schiedliche Formen angenommen haben, aber es ist eine unserer grundlegenden anthropologischen Kons- tanten.“ Zuhause ist nicht einfach ein Ort, sondern vielmehr eine Erfahrung: das Gefühl von Geborgen- heit, von Aufgehoben-Sein, von Zugehörigkeit. Zuhause — die andere Seite der Liebe Zuhause erkannt als eine Bindungserfahrung, macht erfahrbar, wo Nähe anders konkret wird. Vielleicht sind Liebe und Zuhause deshalb zwei Seiten derselben Sehnsucht: Wir suchen nicht das perfekte Bild, sondern einen Raum, in dem wir sein dürfen. Ein Drehbuch, das wir nicht nur spielen, sondern mitschreiben können. 14 Good News Magazin Ein Reality-Check zur Eifersucht: Sie ist eher kein Beweis für Liebe, sondern meist ein Signal für innere Unsicherheit. In ihr spiegeln sich eigene Ängste, biografische Wun- den und manchmal ein brüchiger Selbstwert. Besitzdenken („Mein:e Partner:in gehört mir!“) und Misstrauen — gegenüber sich selbst, der anderen Person oder der Beziehung — spielen dabei oft eine Rolle. Wenn wir Eifersucht als Si- gnal statt als Urteil verstehen, können wir nach- fragen: Was brauche ich gerade, um mich si- cher zu fühlen? Damit wird aus einer schmerz- haften Emotion eine Einladung zum Wachsen. Konkret können helfen: ein ehrliches Check-in, Transparenz über Bedürfnisse, eine gemein- sam vereinbarte Beruhigungspause — und, falls nötig, externe Unterstützung. 2. Gefühl ist nicht gleich Emotion — und das ist gut so Liebe fühlt sich an. Im Körper, im Herzschlag, in der Stimme. Und doch: Liebe ist nicht einfach Gefühl. Um- gangssprachlich scheinen Gefühl und Emotion zwar identisch zu sein. Doch die Emotionsforschung macht deutlich: Gefühl und Emotion sind nicht dasselbe. Gefühl, so sagen die Forschenden, ist zunächst etwas Körperliches: Puls, Hormone, Nervensystem. Ein Grundrauschen, eine Biochemie, und bei vielen Er- fahrungen erstaunlich ähnlich. Ob wir Pizza lieben, unsere Mutter umarmen oder ein neues Date haben — es kribbelt, es zieht, wir wollen mehr. Die Bioche- mie ist oft identisch, und doch wird jede Situation völlig anders erlebt. Allerdings ist die Biochemie vom „Verliebtsein“ eine völlig andere als von Liebe. Denn erst wenn wir dem Gefühl eine Bedeutung geben, entsteht eine Emotion. Emotion ist Gefühl plus Interpretation, Gefühl plus Geschichte. Sie entsteht nicht nur im Körper, sondern auch in Sprache, in Erziehung, in Kultur. Wir erlernen m o c . s o t o h p t i s o p e d - h c n u p h c n e n o - t o n k r a f : r e d i l i B
Gefühle so, dass sie in unterschiedlichen Kontexten ganz verschiedene Farben bekommen. Das gleiche Herzklopfen kann Schmetterlinge im Bauch bedeuten — oder Panik, wenn wir auf eine Antwort warten. Die Soziologin Eva Illouz beschreibt das so: „‚Emotio- nen‘ sind das komplexe Zusammenspiel von physiolo- gischer Erregung, Wahrnehmungsmechanismen und Interpretationsprozessen; sie liegen damit an der Schwelle, wo das Nicht-Kulturelle in der Kultur ver- schlüsselt ist, wo Körper, Kognition und Kultur kon- vergieren und verschmelzen.“ Das klingt abstrakt, ist aber sehr lebensnah. Nehmen wir ein Beispiel: Jemand schreibt uns nach einem Date nicht sofort zurück. Der Körper spürt das Gleiche wie sonst: eine leichte Anspannung, Herzklopfen, viel- leicht ein Ziehen im Magen. Aber was wir daraus ma- chen, ist entscheidend. Die eine Person deutet es als prickelnde Unsicherheit, die andere als bedrohliche Zurückweisung. Der gleiche physiologische Zustand, zwei völlig verschiedene Emotionen. Emotion ist Gefühl plus kulturell erlernte Interpre- tation: Bedeutungen sind lernbar. Wer seine Deu- tungen prüft (z. B. mit einem 3-Min-Check-in: „Was fühle ich? Welche drei Deutungen wären möglich?“), gewinnt Handlungsspielraum – im Kopf und im Körper. m o c . l i h s a p s n u - n v o K s e m a J : d l i B Wenn wir das einmal wirklich verstanden haben, gibt es uns einen mächtigen Hebel: Wir können das Dreh- buch unserer Gefühle nicht komplett neu schreiben, aber wir können die Deutungen überprüfen. Wir kön- nen wählen, welche kulturellen Muster wir überneh- men — und ob wir das Label ‚Partnerin‘ oder ‚Freundin‘ als starre Kategorie verstehen oder es bewusst füllen mit dem, was für alle Beteiligten Sinn macht. Vielleicht hilft es, sich Beziehungen weniger wie Schubladen, sondern eher wie Schieberegler vorzustel- len: emotionale, intellektuelle oder körperliche Nähe, Intimität, Alltag, Sexualität, Fürsorge – all das kann in ganz unterschiedlicher Intensität gelebt werden. Statt Kategorien wie ‚Freundschaft‘, ‚Partnerschaft‘ oder ‚Familie‘ absolut zu setzen, lassen sich die Regler so einstellen, dass die Konstellation für die Beteiligten passend ist. Und selbst dieses Bild bleibt eine Verein- fachung – die Vielfalt menschlicher Beziehungen sprengt jede zweidimensionale Darstellung. Und was für Beziehungen gilt, gilt auch für das Gefühl von ‚Zuhause‘. Auch hier spüren wir körperlich etwas: Vertrautheit, Wärme, Sicherheit. Aber was das bedeu- tet, ob es an eine bestimmte Wohnung, eine Familie, eine Beziehung oder an die Bäckerei an der Ecke ge- bunden ist — das hängt von unserer Biographie, unse- rer Erziehung, unserer Kultur ab. Für manche ist es das Elternhaus, für andere der Platz, an dem sie zum ersten Mal selbstbestimmt wohnen konnten, oder aber etwas völlig anderes. Spannend ist auch der Blick in die Menschheitsge- schichte: Über 300.000 Jahre lebte der Mensch noma- disch in Gruppen, sesshaft ist unsere Spezies erst seit wenigen Jahrtausenden. Vielleicht steckt der Drang nach Aufbruch noch immer tief in uns. Dabei darf man jedoch nie vergessen: Homo sapiens war nie ein Einzelgänger. Wir sind soziale Herdentiere – Bindung ist keine Laune des Herzens, sondern ein evolutives Überlebensprinzip. Nähe, Schutz, Koopera- tion, Stimmen, Blicke, Rituale, Berührung – das alles braucht unser Körper. Der Autor Daniel Schreiber be- schreibt diese Spannung sehr persönlich: „Ich sehnte mich nach einem Zuhause, zugleich aber verspürte ich den inneren Drang, wieder aufzubrechen. Wie war das miteinander zu vereinen?“ Das „Zuhause“ war für einen Großteil unserer Ge- schichte nicht primär ein Ort – sondern die Menschen, mit denen wir verbunden sind. Heute ziehen wir für gewöhnlich ohne unsere gesamte soziale Gruppe in eine neue Gegend. Aber wir haben neue Werkzeuge, um Zugehörigkeit zu halten, während wir uns bewe- gen: Chats in Echtzeit, Videotelefonate, digitale Räume, in denen Beziehungen weiterleben, auch wenn man geografisch weit entfernt ist. Natürlich ersetzt das nicht die körperliche Nähe – nicht den Geruch, das gemeinsame Essen, die Hand auf der Schulter. Aber es kann das Gefühl von Bindung verlän- gern, bis man wieder gemeinsam irgendwo ankommt. Good News Magazin 15
m o c . s o t o h p t i s o p e d - f f o k n e d o r o G - i y v o z o L w e r d n A : r e d l i B Vielleicht müssen wir also nicht wählen zwischen ‚fes- tem Zuhause‘ und ‚ewigem Aufbruch‘. Vielleicht liegt die Kunst darin, beides zu verbinden: Verlässlichkeit im Inneren — und Offenheit für Bewegung im Äuße- ren. So wie Gefühle zu Emotionen werden, wenn wir ihnen eine Bedeutung geben, so wird auch ein Ort erst dann zu einem Zuhause, wenn wir ihm unsere Ge- schichte, unsere Praxis, unsere Liebe einschreiben. Und genau dort, zwischen innerer Verlässlichkeit und äußerer Bewegung, beginnt gelebtes Zuhause. Deshalb taucht Zuhause in diesem Text immer wieder auf – nicht als Thema neben der Liebe, sondern als deren gelebter Resonanzraum. Weil dort, wo wir uns sicher fühlen, auch Liebe entstehen kann. Wir können uns fragen: Wer hat eigentlich dieses Drehbuch geschrieben, dem wir alle so selbstverständ- lich folgen? Es war nicht unsere eigene Erfahrung, son- dern ein Zusammenspiel von Literatur, Religion, Öko- nomie und Popkultur. Von Jane Austen bis Disney, von Hochzeitsanzeigen bis zu Dating-Apps: Überall finden wir die Botschaft, dass die ‚wahre Liebe‘ existiert und dass es unsere Aufgabe sei, sie zu finden — oder uns als gescheitert zu fühlen. 3. Wer hat unser Liebesdrehbuch geschrieben? Es ist also wirklich an der Zeit, das kulturelle Drehbuch der Liebe eingehend zu prüfen. Die Kultursoziologin Eva Illouz beschreibt die romantische Liebe als eine der erfolgreichsten Erzählungen der Moderne — aber auch als eine, die uns oft gefangen hält. Seit dem 19. Jahrhundert ist Liebe in der westlichen Welt eng ver- knüpft mit großen Versprechen: • • • • der Idee von ‚Schicksal‘ und ‚Vollendung‘ der romantischen Zweierbeziehung als Idealform ökonomischen Erwartungen wie Sicherheit und Exklusivität und einer Art emotionalem Konsum: Wir wollen Liebe ‚fühlen‘, ‚beweisen‘, ‚performen‘ Illouz zeigt: Liebe ist heute oft eine Ware. Eine Ge- schichte, die sich wunderbar erzählen lässt — in Fil- men, Serien, Social-Media-Posts —, aber die sich im Alltag schwer leben lässt. Sie soll jederzeit verfügbar sein, gleichzeitig tiefgründig und einzigartig. Sie soll spontan und überraschend sein, aber zugleich lebens- lang halten. Kein Wunder, dass viele Menschen an die- sem Spagat verzweifeln. Wie Kultur & Ökonomie unser Herz choreografieren — und wie wir das Skript ändern Und als wäre dieses Skript nicht anspruchsvoll genug, sollen wir heute zusätzlich noch uns selbst lieben. Wir sollen Selbstwert aus uns selbst heraus entwickeln, als könnte man Stärke und Stabilität einfach im Allein- gang produzieren. „Liebe dich selbst!“, klingt emanzi- patorisch, aber — so erinnert Eva Illouz — Selbstwert entsteht nicht im luftleeren Raum, sondern immer im Spiegel der anderen. Anerkennung wächst dort, wo wir uns gegenseitig sehen, wo wir die eigene Abhängigkeit von anderen nicht verleugnen, sondern annehmen. Dieses Missverständnis ist zentral: Wir verwechseln Autonomie mit Selbstgenügsamkeit. Doch in Wahrheit ist unser Bedürfnis nach Resonanz zutiefst mensch- lich. Das Eingeständnis, dass wir auf andere angewie- sen sind, macht uns nicht schwächer, es macht uns wahrhaftiger — und stärker. Auch Carel van Schaik und Kai Michel schlagen in eine ähnliche Kerbe. Sie zeigen, dass die meisten star- ren Vorschriften darüber, wen und wie wir zu lieben haben, patriarchale Produkte einer religiösen Tradi- tion sind — und dass diese langsam auslaufen. Das er- öffnet neue Räume. Das gibt mehr Freiheit. Die Chance auf ein Beziehungsleben, das einfacher, ehr- licher, vielfältiger ist. Wer sich ewige Treue schwören 16 Good News Magazin
möchte, darf das weiterhin tun. Aber er oder sie kann es tun, ohne Angst vor moralischem Versagen, falls es nicht hält. Scheitern ist nicht Sünde, sondern Teil einer gemeinsamen Lernbewegung. Scheitern ist kein Makel – sondern Teil einer gemeinsamen Lernbewegung. Wichtig: Das Verblassen alter Normen bedeutet keinen Verlust gut gelebter Traditionen. Es bedeutet mehr Platz für Unterschiede – und die Chance, dass tradierte und andere Beziehungen bewusster gelingen. Vielleicht ist das die befreiende Perspektive: Wir müs- sen nicht länger das ‚perfekte‘ Drehbuch spielen, son- dern dürfen unsere eigenen Geschichten schreiben. Geschichten, in denen Liebe nicht am Idealbild schei- tert, sondern an Möglichkeiten wächst. Etwas Ähnliches gilt für ‚Heimat‘. Auch sie ist eine Er- zählung, die voller Nostalgie steckt und oft erst spürbar wird, wenn sie verloren scheint. Der Heimatbegriff hat immer ein Stück Melancholie, ein „Früher war es bes- ser“. Daniel Schreiber schlägt vor, das anders zu den- ken: „Sich ein Zuhause zu suchen bedeutet, einen Ort in der Welt zu finden, an dem wir ankommen — und dieser Ort wird zuallererst ein innerer Ort sein, ein Ort, den wir uns erarbeiten müssen.“ So wie wir das Drehbuch der Liebe umschreiben kön- nen, können wir auch das Drehbuch des Zuhauseseins neu entwerfen. Wir sind eingeladen, nicht die Bilder anderer zu reproduzieren, sondern zu fragen: Wo fühle ich mich wirklich geborgen? Was gibt mir Resonanz, Wärme, Zugehörigkeit? Und vor allem: mit wem möchte ich diese Räume teilen? m o c . s o t o h p t i s o p e d - o k d a R k i l a t i V : d l i B 4. Liebe ist keine Prüfung. Sie ist eine Praxis. Der Philosoph Erich Fromm hat schon in den 1950er- Jahren gesagt: „Liebe ist eine Kunst — sie erfordert Wissen, Mühe, Geduld.“ Das klingt schlicht, aber es stellt sich quer zu der weit verbreiteten Idee, Liebe sei etwas, das uns ‚passiert‘ – und ist eine gute Nachricht. Denn was man üben kann, kann auch wachsen: Liebe ist kein Schicksal, keine Prüfung, sie ist eine Praxis. Eine Haltung, ein Tun. Nicht Besitz oder Verschmel- zung, sondern: Fürsorge • • Verantwortung • • Wissen um die andere Person Respekt Diese Schlagworte sind keine Dekoration, sondern laden uns ein, sie zu füllen — im Gespräch mit uns selbst, mit den Menschen, die uns nah sind, und mit der Welt. Sie fragen: Was heißt Fürsorge, wenn meine Beziehungsperson gerade krank ist? Was bedeutet Respekt, wenn wir über Geld oder Arbeit streiten? Was heißt Verantwortung, wenn ich Fehler mache? Es geht also um Liebe — nicht im Sinne einer mystischen ‚wahren Liebe‘, sondern als gelebte Praxis zwischen zwei oder mehr Menschen, die immer von Kontext und Deutung abhängt. Eva Illouz bringt es auf den Punkt: „Gleichheit, Frei- heit, die Suche nach sexueller Erfüllung, Menschen, die Fürsorglichkeit und Autonomie beweisen, ohne auf die Geschlechtszugehörigkeit zu achten — all dies ist Ausdruck der erfüllten Versprechen moderner Liebe und Intimität.“ Diese Form moderner Liebe ist dann nicht weniger anspruchsvoll, sondern anders an- spruchsvoll: Sie fordert uns auf, aktiv zu gestalten, nicht passiv zu konsumieren. So mancher Mensch beschreibt daran anschließend Liebe als eine Praxis, die uns einander leiblich erfahren lässt: nicht als Objekte, sondern als Mitwelt. Dann sind geliebte Menschen nicht Gegenstände unserer Ge- fühle, sondern Gegenüber, mit denen wir die Welt tei- len. Liebe entsteht dort, wo Gegenseitigkeit gelebt wird — und sie wächst, wenn wir uns in radikaler Ehr- lichkeit begegnen. Wobei ‚ehrlich‘ nicht heißt, dass es ein verborgenes ‚wahres Ich‘ gäbe — vielmehr sind alle unsere Selbste Relation und Erzählung. Und diese Pra- xis der Ehrlichkeit kann in vielen Formen gelebt wer- den — von der langen, monogamen Partner:innen- schaft, über Polyküle bis zur Wahlfamilie. Good News Magazin 17
Das ist keine leichte Aufgabe. Denn es bedeutet, dass wir uns einander zumuten müssen. Nicht nur die schö- nen Seiten, sondern auch die schwierigen. Es bedeutet, dass wir den Mut haben, uns verletzlich zu zeigen — und die Stärke, die Verletzlichkeit des anderen auszuhalten. Sich sich selbst und anderen Zu-Muten — und gemeinsam verändern Vielleicht ist das die eigentliche Kunst: zu akzeptieren, dass wir nicht die Gleichen bleiben. Wir sind nicht mehr dieselbe Person wie vor zwanzig Jahren, und unsere Beziehungspersonen auch nicht. Wer Liebe als Praxis versteht, erwartet nicht, dass alles so bleibt wie am ersten Tag, sondern lernt, dass Veränderung dazu- gehört. Dass die Kunst des Liebens darin besteht, im- mer wieder neu zu lernen, wer der andere ist — und wer wir selbst geworden sind. Wir sind eingeladen, uns auf eine Kunst des Liebens einzulassen. Michael Ende hat das einmal als Märchen erzählt: Sein Held kehrt erst in die Menschenwelt zurück, als er das „Wasser des Lebens“ getrunken hat — und dieses Wasser schenkt nichts anderes als: die Fähigkeit zu lieben. Viel- leicht ist unser Wasser des Lebens heute: Zeit, Aufmerk- samkeit, der Wille, einander wirklich zu begegnen. Das alles klingt groß. Aber es beginnt im Kleinen: im Zuhören, im gemeinsamen Lachen, im fairen Streit. In der Bereitschaft, nach einem Konflikt nicht auf das eigene Recht zu pochen, sondern auf Verbindung. Liebe ist nicht die Abwesenheit von Konflikten — son- dern die Art, wie wir damit umgehen. Und auch Zuhause ist kein Geschenk, das einfach vom Himmel fällt. Es ist, wie Claire Marin schreibt, „eine Praxis von Gewöhnung, Routinen, Fürsorge“. Zuhause entsteht nicht durch Mauern, sondern durch gelebte Erfahrungen: durch den Geruch von Kaffee oder Tee am Morgen, durch ein vertrautes Geräusch im Treppenhaus, durch die Menschen, die da sind, wenn wir heimkommen. Zuhause ist, genau wie Liebe, ein Prozess. Es entsteht durch Wiederholung, durch Aufmerksamkeit, durch kleine Gesten. Wir sind, wie Marin sagt, „immer unter- wegs, zwischen Ankunft und Aufbruch“. Die Frage ist nicht, ob wir irgendwo endgültig ankommen, sondern wie wir unterwegs Nähe gestalten. Vielleicht sind Liebe und Zuhause deshalb zwei For- men derselben Kunst: die Kunst, Räume zu schaffen, in denen wir uns zeigen können — mit unseren Schwä- chen und unseren Stärken. Räume, die wir nicht besit- zen, sondern beleben. „So üben wir Liebe als Praxis“: • Wöchentliches 10-Min-Check-in 🕐 (Wie geht’s Dir? Was brauchst Du?) • ⛔ Konflikt-Stopp-Signal vereinbaren (Pausenrecht + Rückkehrzeit) 🍵 Kleine Fürsorge-Rituale (z. B. Morgenkaffee, Abendspaziergang) 5. Poly, queer, gewählt — wie Liebe heute vielfältiger wird Immer mehr Menschen zeigen: Liebe geht auf mehre- ren Wegen gut. Neuzeitlich-klassische Kernfamilien, Wahlfamilien, queere Freund:innenschaften, poly- amore Netzwerke oder Co-Care-Konstellationen – sie schließen einander nicht aus, sie ergänzen sich im Re- pertoire gelingender Bindung. Beziehungen, die nach lebendigen Vereinbarungen funktionieren, die Men- schen miteinander aushandeln. Eva Illouz betont: „Die soziale Welt wird durch aktive und willentliche Entscheidungen von Menschen kons- tituiert und aufrechterhalten, die sich zumindest in ge- wisser Weise der Gründe ihrer Handlungen bewusst sind und darüber Bescheid wissen.“ Mit anderen Wor- ten: Wir sind nicht Gefangene einer Tradition — wir können unsere Bindungen gestalten. m o c . s o t o h p t i i s o p e d - a d e m k a e r b e v a W : d l i B 18 Good News Magazin
Dabei geht es nicht um Trend oder Lifestyle, auch wenn manche Medien es so darstellen. Es geht um echte Antworten auf echte Fragen: • Wie gestalten wir Bindung in einer Zeit, in der viele erkennen, dass das kulturelle Skript der neuzeitlichen Kernfamilie nicht mehr selbstver- ständlich tragfähig ist? • Wie bleiben wir offen für Nähe, ohne andere auszuschließen? • Wie lässt sich Verlässlichkeit leben — jenseits von Besitzdenken? Es gilt, Beziehungsräume zu schaffen, die Nähe und Freiheit gleichermaßen ermöglichen. Räume, in denen Menschen einander wichtig sind, ohne dass Besitzan- sprüche die Grundlage bilden. Nähe, die nicht zur Fes- sel wird, sondern zum Freiraum. Viele leben das längst. Paare, die Kinder großziehen und dabei enge Freund:innen einbeziehen. Queere Communities, die füreinander sorgen, wenn die biolo- gische Familie nicht da ist. Menschen, die bewusst po- lyamor leben und darin nicht ‚mehr Liebe‘ suchen, son- dern bewusstere, offenere Formen des Miteinanders. Gemeinsam ist ihnen: Sie sprechen über Bedürfnisse, über Grenzen, über Sehnsüchte, über Emotionen — und sie tun es offen. Aaron Ben-Ze’ev formuliert es so: „Bei uns Menschen ist die Gesellschaft ein Tummelplatz der Emotionen, weil die anderen Menschen von größter Bedeutung für unser Wohlergehen sind. Emotionen sind der Kitt, der die Gesellschaft zusammenhält […] Je mehr soziale Kontakte Menschen haben, desto glücklicher und ge- sünder sind sie, leiblich wie seelisch.“ Das zeigt: Vielfalt in Beziehungen ist kein Defizit, sondern ein Reichtum. Und diese Vielfalt bedeutet nicht weniger Zuhause — im Gegenteil. Oft entsteht gerade hier ein besonders starkes Gefühl von Geborgenheit, weil es nicht an ein Etikett gebunden ist. Wahlfamilien sind nicht ‚zweite Wahl‘, sondern gelebte Räume der Nähe. Sie können nicht nur so verlässlich sein wie jede heteronormative Ehe, sondern sind oft sogar stabiler, weil sie ohne kul- turelles Skript bewusst gepflegt werden. Natürlich bringt das neue Herausforderungen: Wer ge- hört dazu? Wie geht man mit Eifersucht um? Wie viel Freiheit verträgt die Nähe? Doch diese Fragen sind nicht Zeichen von Schwäche, sondern vielmehr eine Stärke und Teil des Prozesses. Sie lassen sich gemein- sam meistern, und in diesem Meistern entsteht genau das, was wir suchen: ein Zuhause, das nicht auf Mauern beruht, sondern auf Beziehung. m o c . s o t o h p t i s o p e d - l i e x p w a R : d l i B Was schon heute gut funktioniert (eine kleine Auswahl): Klassische Partner:innenschaften mit klaren Wochenritualen (z.B. Sonntags- frühstück, Spaziergang). Wahlfamilien mit „Care-Kalender“ (z.B. Arzttermine, Abholen, Anrufe). Poly-Beziehungen mit Check-ins & Transparenz (z.B. Bedürfnisse, Grenzen, Verbindlichkeit). Queere Hausgemeinschaften als liebevolles Unterstützungsnetz im Alltag. ☀ 📅 💌 🏡 Vielleicht ist das die leise (R)Evolution unserer Zeit: dass wir lernen, Liebe, Beziehung, Zuhause nicht mehr als starre Etiketten zu verstehen, sondern als lebendige Praxis. Und dass wir den Mut haben, unsere Bindun- gen selbst zu gestalten — so, wie sie zu uns passen. Doch was sagt dazu der Körper — und was die For- schung zu Bindungssicherheit? 6. Körper, Bindung, Emotion — ein anderes Zusammenspiel Und was sagt die Biologie? Spannend ist: Auch evolu- tionsbiologisch sind nicht die monogame Zweierbe- ziehung oder exklusive Besitzstrukturen unser bevor- zugter oder gar einziger Bindungsmodus. Zwar sind temporäre Paarbindungen sehr alt, aber das Verspre- chen der ewigen Liebe, die lebenslange, sexuell exklu- sive Partnerschaft zwischen einem Mann und einer Frau — das ist eine vergleichsweise junge Erfindung. Anthropolog:innen erinnern daran: Über Jahrhundert- tausende lebten Menschen in Gemeinschaften, in Good News Magazin 19
denen Sorge und Bindung, Liebe und Sex auf viele Menschen verteilt waren. Kinder wuchsen in Gruppen auf, Fürsorge war geteilte Verantwortung. Wenn wir auf unsere biologische Grundausstattung schauen, sehen wir deshalb weniger das starre Bild der ‚Zweierbeziehung auf Lebenszeit‘ und mehr ein Set an Bedürfnissen, die flexibel gelebt werden kön- nen. Viel grundlegender als die Form ist das, was wir uns wünschen: • Verlässlichkeit Zugehörigkeit • • Spiel • Sex • Kuscheln, Berührung, Ko-Regulation (wir beruhigen einander physiologisch) Die moderne Bindungsforschung hat sich weiterentwi- ckelt und von den ursprünglichen, heteronormativen Annahmen verabschiedet. Sie zeigt: Menschen brau- chen sichere Beziehungen — aber diese können sehr vielfältig aussehen. Eine sichere Bindung kann die Mutter sein, die ihr Kind tröstet. Der Freund, der mitten in der Nacht ans Telefon geht. Die Partnerin, die zuhört, wenn die Welt draußen hart war. Oder auch eine Wahl- familie, die gemeinsam ein Netz spannt, damit niemand durchfällt. Auch hier das Schöne: Die Forschung zeigt, es gibt keine ‚Bindungstypen‘, die in der Persönlichkeit festgeschrieben sind. Es gibt unterschiedliche Bin- dungsstile, die von Beziehung zu Beziehung, von Situa- tion zu Situation unterschiedlich dominant sind. Sichere Beziehungen leben nicht von großen Gesten, sondern von etwas Schlichterem — und doch Ent- scheidenderem: Verlässlichkeit und Ehrlichkeit. Es sind die Menschen, die bleiben, wenn es schwierig wird. Die da sind, wenn wir Trost brauchen, und die sich mit uns freuen, wenn wir etwas Neues entdeckt haben. Sie geben uns das Gefühl, nicht allein durch die Welt gehen zu müssen. Das muss keine ständige Prä- senz im Alltag sein, es geht um Ko-Regulation, die unsere Nervensysteme beruhigt. Denn diese sind be- ziehungsfähig — sichere Nähe, Körperkontakt, beru- higt, stärkt und macht belastbarer. Das Ziel ist nicht „perfekt“, sondern „verlässlich genug“. Bist du verfügbar, bist du ansprechbar, bist du emotional engagiert? 20 Good News Magazin Die Bindungsforscherin Sue Johnson bringt das, was wir uns in Beziehungen eigentlich wünschen, auf drei einfache Fragen: Bist du da, wenn ich dich brauche? • • Nimmst du mich wahr, bist du ansprechbar? • Bist du emotional engagiert, mit dem Herzen bei mir? Wenn wir diese Fragen immer wieder füreinander mit „Ja“ beantworten können — und dabei eine gemein- same Vorstellung davon teilen, wie tief und verbindlich wir diese Nähe leben wollen —, dann entsteht etwas, das trägt. Und das alles kann unabhängig von Labeln gelebt werden. Dafür braucht es keine Hierarchien wie ‚echte‘ und ‚unechte‘ Beziehungen, keine starren Unterscheidungen zwischen ‚Freund:in‘ und ‚Part- ner:in‘. Was es braucht, ist Nähe — und die Bereitschaft, diese Nähe als Kunst zu pflegen. Und es schadet nicht, zusätzlich eine sichere Bindung zu sich selbst zu entwickeln. Sich selbst ein schützender Hafen sein, eine sichere Basis, auf die man zurückfallen kann. Wer mit sich selbst mehr oder weniger im Reinen ist, erwartet weniger Rettung von anderen und kann Be- gegnung freier gestalten. Selbstbindung bedeutet: sich trösten können, sich ermutigen können, sich selbst freundlich zu begegnen, sich selber halten — gerade dann, wenn es schwer ist. Das sind nicht nur kognitive, sondern vor allem emotionale und körperliche Erfah- rungen. Und: Das ist kein Ziel, dass erreicht werden kann, sondern ein Prozess, der gestaltet werden möchte. Hier verbinden sich Liebe und Zuhause unmittelbar. Denn der Körper ist selbst ein Ort der Bindung. Wir tra- gen unser Zuhause in uns — durch Berührung, durch Stimme, durch Gewohnheiten. Ein vertrauter Geruch, eine bestimmte Melodie, eine Umarmung, die sofort be- ruhigt: All das erinnert uns daran, dass Nähe nicht nur ein äußerer Ort ist, sondern auch ein inneres Erleben. Vielleicht ist das die tiefste Einsicht: Dass wir Heimat nicht nur in Räumen und Beziehungen finden, sondern auch in uns selbst — als leibliche Erfahrung von Si- cherheit und Verbundenheit. m o c . s o t o h p t i s o p e d - y i k s t e v o h k r e V r u t r A : d l i B
dass die Liebe tiefer ist, als gedacht – und gerade da- durch wächst sie. Natürlich bedeutet das auch, ein Stück Naivität zu verlieren. Aber wie Peter Fuchs tröst- lich sagt: Was wir an Naivität verlieren, gewinnen wir an Komplexität. Und Komplexität ist kein Fluch, sondern eine Einladung, uns freier, ehrlicher, offener und liebe- voller zu begegnen. Für manche Menschen mag diese Einladung aufregend wirken, für andere eher beunruhi- gend. Nicht jede:r sucht Weite – manche finden Sicher- heit gerade in klaren Formen und vertrauten Routinen. Auch das verdient Achtung. Freiheit heißt schließlich auch, nicht alle Türen öffnen zu müssen. Pierre Bourdieu formulierte es nüchtern: Auf die Welt einwirken kann nur, wer sie kennt. Jeder erkannte Zusammenhang, jede entdeckte Prägung er- öffnet einen weiteren Freiheitsspielraum, der genutzt werden kann – aber nicht muss. Liebe zu verstehen heißt also nicht, sie kleinzureden, sondern ihr mehr Möglichkeiten zu geben – wenn man möchte. Vielleicht ist genau das die gute Nachricht: Wir müssen nicht blind und unbewusst geprägt durchs Labyrinth der Liebe tappen. Wir dürfen es neugierig erkunden, Schritt für Schritt. Wir dürfen auf bekann- ten Pfaden bleiben. Und wir dürfen Irrwege gehen, Tü- ren öffnen, Sackgassen wieder verlassen – und auf dem Weg Räume schaffen, die Geborgenheit sowie Aben- teuer zugleich sind. Vielleicht heißt Liebe am Ende nichts anderes, als sich selbst und einander immer wieder einzuladen. Nicht in eine perfekte Geschichte, sondern in ein offenes Ge- spräch, in eine gelebte Praxis, in eine Bewegung. Die Fragen, die bleiben, sind deshalb nicht rhetorisch, son- dern ein Angebot: „Wie möchtest Du geliebt werden — und wie möchtest Du lieben?“ „Mit wem und wo fühlst Du Dich zu Hause?“ Drei Fragen, die Nähe stärken Was brauchst Du, um Dich heute sicher zu fühlen? Was kann ich heute tun, damit Du Dich gesehen fühlst? Was möchten wir diese Woche bewusst wiederholen? 7. Eine Einladung zur anderen Liebe Wenn wir Liebe neu denken, dann ist sie nicht mehr ein unbewusstes, kulturelles Skript und es verschwindet nichts Gutes — es wird zugänglicher, vielfältiger. Viel- leicht ist Liebe dann vor allem eine echte Einladung: • • • zur Verbindung zur Auseinandersetzung zur Fürsorge Und vielleicht gilt das auch für Zuhause. Es ist kein Paradies, aus dem wir vertrieben wurden, sondern et- was, das wir uns immer wieder neu schaffen. Kein Ort, an dem wir einfach ankommen und für immer bleiben, sondern ein Raum, den wir gestalten — mit Ritualen, mit Sprache, mit Menschen. Wenn wir Liebe und Zu- hause so begreifen, verändert sich der Blick. Liebe ist dann nicht weniger romantisch, sondern menschlicher. Weniger normiert, aber wärmer. Weniger festgeschrie- ben, aber vielleicht wirklich ‚echter‘. Und sie ist nicht dazu verdammt, immer nur als Prob- lemgeschichte erzählt zu werden. Denn wie Eva Illouz betont, gibt es längst viele moderne Formen glücklicher Liebe — getragen von Freiheit, Gleichheit, Fürsorge und Autonomie. Glückliche Liebe, so Illouz, ist nicht weni- ger modern als unglückliche. Sie entsteht dort, wo Men- schen Verantwortung füreinander übernehmen, ohne Besitzansprüche. Dort, wo Autonomie und Verbunden- heit nicht als Gegensätze verstanden werden, sondern als zwei Kräfte, die sich gegenseitig tragen. Komplexität ist kein Fluch, sie ist Freiheitsspielraum. Manche fürchten, dass Wissen und Analyse die „Ma- gie“ der Liebe zerstören könnten. Dass Nachdenken die Leidenschaft tötet. Aaron Ben-Ze’ev widerspricht entschieden: Verstehen nimmt nichts, es gibt uns mehr. Wer die eigene Bindung reflektiert, kann herausfinden, m o c . s o t o h p t i s o p e d - 4 7 i t x n i : d l i B Good News Magazin 21
m o c . s o t o h p t i s o p e d - a t o k u K : d l i B Der Verlust geliebter Menschen Was ist Trauer, wenn nicht Liebe, die andauert? 22 Good News Magazin
Viktoria Franke Ich spreche gern über den Tod. Mit meiner Familie, mit Freund:innen. Er ist das einzige, was uns allen gemein ist. Wir alle werden sterben. Ich habe geliebte Menschen – und Lebewesen – verloren, doch wie heißt es mit fort- schreitender Lebenszeit? „Die Einschläge kommen nä- her“. Haben wir Glück und unser Leben in westlichen, privilegierten Lebensverhältnissen folgt statistischen Wahrscheinlichkeiten, so verlieren wir erst die ältesten Familienmitglieder und irgendwann die Eltern. Der Ver- lust des Partners oder der Partnerin folgt hoffentlich erst im hohen Alter – wobei Frauen in Deutschland die- sen Umstand leider statistisch öfter erleben, angesichts einer durchschnittlich höheren Lebenserwartung von fünf Jahren. Und dann gibt es diese Trauer, die man nie- mandem wünscht: Der Verlust des eigenen Kindes. Sicher fällt es von außen leicht, eine Wertung dieser Verluste aufzumachen. Das Kind wiegt schwerer als die Tante. Mein Partner schwerer als meine Oma. Doch das wäre falsch, denn so rational und natürlich der Tod ist, so irrational ist die Trauer. Das erste Mal wurde mir das stark bewusst, als 2021 innerhalb kürzester Zeit mein Stiefopa und Charlie Watts – der Schlagzeuger der Rolling Stones – starben. Sobald ich einordnen konnte, wie es meinem Vater mit dem Verlust seines Stiefvaters ging, war jeglicher Gedanke an dessen Tod ausgedacht. Ich verspürte keine Trauer. Bei dem mir völlig unbekannten Watts weinte ich noch über Tage. Es tat weh. Weil mir diese Musik so wichtig war, die Erlebnisse auf Konzerten rund um den Globus wert- volle Erinnerung sind. Bei meinem Großvater gab es leider keine solchen wertvollen Erinnerungen. Trauer bedeutet nicht, dass Liebe endet Ich hatte vorher einen Verlust in der Familie, der noch neun Jahre später weh tut. Warum also hier nicht? Weil Trauer so viel mit dem Thema unseres Magazins zu tun hat. Wenn wir Menschen oder Lebewesen verlieren, die uns wichtig sind, dann schmerzt das. Ja, Zeit heilt alle Wunden. Aber das heißt nicht, dass die Wunden verschwinden. Die Herausforderung liegt nicht darin, „loszulassen“ – ein Begriff, der oft mehr Druck erzeugt als Trost spendet. Vielmehr geht es darum, die eigene Liebe neu zu organisieren: Wo kann sie hinfließen? Was bleibt wichtig? Welche Erinnerung schenkt Kraft, welche tut noch weh? Denn was ist Trauer in ihrem Kern? Ich konnte das nie so gut in Worte fassen, wie es ausgerechnet ein auf den ersten Blick oberflächliches Superheld:innen-Fran- chise namens Marvel konnte. In einer TV-Serie des Comic-Giganten fragte ein Charakter: „What is grief, if not love persevering?“ (Auf Deutsch in etwa: „Was ist Trauer, wenn nicht Liebe, die andauert?“) Dieser ganze Artikel könnte in diesem Satz zusammengefasst wer- den. Wir trauern, wenn wir lieben. Seit ich diesen Satz kenne, beruhigt er mich auf eine Art, wie es vorher kein Selbsthilfebuch konnte. Trauer wird zu etwas Positivem, denn sie zeigt mir, wie sehr ich geliebt habe. Das heißt aber nicht, dass mit einem Kalenderspruch oder Filmzitat oder einem gut gemeinten Ratschlag eines Familienmitglieds die Trauer automatisch vorbei ist. Dazu ist Trauer zu vielschichtig. Nicht nur auf der Ebene des emotionalen Erlebens, sondern auch bio- logisch betrachtet, ist sie ein hochkomplexer Prozess, der den gesamten Organismus beschäftigt. Wenn ein geliebter Mensch stirbt oder eine Beziehung zerbricht, aktiviert das Gehirn dieselben Netzwerke, die auch für Bindung zuständig sind – nur diesmal ohne die Nähe, die sie eigentlich beruhigen sollte. Das Ergebnis: Der Körper gerät in Alarmbereitschaft. Good News Magazin 23 m o c . s o t o h p t i s o p e d - y i k s t e v o h k r e V r u t r A : d l i B
Wenn Trauer sich festsetzt Normalerweise beginnt der Körper nach Wochen oder Monaten, sich an die veränderte Realität anzupassen. Der Cortisolspiegel sinkt, der Schlafrhythmus stabili- siert sich, das Immunsystem erholt sich. Doch wenn die Trauer keinen Ausdruck findet oder unterdrückt wird, bleibt der Körper im Stressmodus stecken. Die Folge können chronische Erschöpfung, Herz-Kreislauf-Be- schwerden oder psychosomatische Schmerzen sein. Wenn das passiert und der Anpassungsprozess blo- ckiert ist, spricht man von einer anhaltenden Trauer- störung. Die biologische Stressreaktion läuft weiter wie ein Alarm, der sich nicht mehr abschalten lässt. Betroffene erleben dann über Monate oder Jahre in- tensive Sehnsucht, innere Erstarrung oder Rückzug. Hier wird Trauer tatsächlich zur Krankheit – und pro- fessionelle Hilfe wichtig. „Du musst da nicht allein durch“ Auch wenn in solchen Fällen professionelle Unterstüt- zung wichtig ist: Viele Menschen kommen ohne The- rapie durch ihre Trauer. Aber nur wenige schaffen es allein. Die Forschung zeigt, dass bestimmte Strategien den biologischen Stress tatsächlich verringern. Dazu gehört vor allem soziale Verbundenheit. Gespräche mit vertrauten Menschen senken nachweislich den Corti- solspiegel, stabilisieren das Nervensystem und min- dern das Gefühl der Isolation. Ebenso wirksam ist kör- perliche Aktivität: Spazierengehen, Radfahren oder leichte Sportarten fördern die Ausschüttung von En- dorphinen und reduzieren die physiologischen Stress- reaktionen, die Trauer begleitet. Rituale gehören zu den stärksten nicht-medizinischen Bewältigungsformen. Ob Kerze, Grabbesuch, gemein- sames Kochen eines Lieblingsgerichts oder das Schrei- ben eines Briefes – solche Handlungen strukturieren das emotionale Chaos und helfen dem Gehirn, den Verlust zu integrieren. „Die Kulturen mit dem ge- sündesten Verhältnis zum Tod sind diejenigen, m o c . s o t o h p t i s o p e d - y i k s t e v o h k r e V r u t r A - A - a n i r a M : r e d l i B Warum Trauer wehtut – wortwörtlich Der Verlust einer Bezugsperson löst eine unmittelbare Stressreaktion aus. Das Gehirn schüttet vermehrt Cor- tisol aus, das wichtigste Stresshormon. Kurzzeitig hilft das, durchzuhalten – langfristig schwächt es jedoch das Immunsystem, erhöht den Blutdruck und macht anfälliger für Infekte. Viele Trauernde berichten genau davon: Sie fühlen sich „ständig krank“, schlafen schlecht, verlieren den Appetit, frieren schnell oder haben diffuse Schmerzen. All das ist keine Einbildung, sondern eine physiologische Reaktion auf einen emo- tionalen Ausnahmezustand. Neurowissenschaftlich betrachtet reagiert der Körper auf Trennung ähnlich wie auf körperliche Schmerzen. Verlust aktiviert jene Hirnregionen, die auch bei Ver- letzungen feuern – weshalb Trauer buchstäblich „weh tut“. In extremen Fällen kann die Belastung sogar das Herz beeinträchtigen. Das sogenannte Broken-He- art-Syndrom, eine akute, stressbedingte Schwächung des Herzmuskels, zeigt, wie eng Emotion und Körper verbunden sind. „Wenn ich von meinem Partner umarmt werde, sinkt meine Herzfrequenz. […] Paare und eng verbundene Eltern-Kind-Beziehungen bilden dieses ‚Wir‘. Wenn es zu einem Todesfall kommt, zeigt sich, dass wir von unseren Lieben extern reguliert werden. Sie sind unser externer Schrittmacher, aber das wird uns oft erst be- wusst, wenn sie nicht mehr da sind“, erklärt die US- amerikanische Psychologie-Professorin Mary-Frances O‘Connor. „Während das kardiovaskuläre Risiko in der akuten Trauerphase, insbesondere in den ersten Mo- naten, steigt, sehen wir tatsächlich ein erhöhtes Risiko für alle möglichen anderen Erkrankungen, wie zum Beispiel ein Wiederauftreten von Krebs oder sogar Lungenentzündungen.“ 24 Good News Magazin
die sich mit ihm auseinandersetzen, weinen, la- chen, ihre Gefühle ausleben, trauern und Rituale ab- halten – manchmal Rituale, die sich über Jahre hinzie- hen“, erklärte mir die US-amerikanische Bestatterin und Autorin Caitlin Doughty. Auch Schreiben wirkt nachweislich regulierend: Studien zeigen, dass Expres- sives Schreiben – also 10–20 Minuten freies Schreiben über die eigenen Gefühle – das Immunsystem stärkt und Schlaf sowie Stimmung verbessert. Und schließlich: Natur. Untersuchungen aus der Ge- sundheitspsychologie zeigen, dass regelmäßige Zeit draußen – gern im Wald oder an einem Gewässer – das Nervensystem messbar beruhigt. Herzfrequenzvariabi- lität und Stresshormone normalisieren sich schneller. Trauer folgt keinem Muster All diese Wege ersetzen weder den geliebten Men- schen noch eine Therapie, wenn Trauer chronisch wird. Aber sie bilden das Fundament, auf dem Hei- lung wachsen kann. Dabei muss man seinen eigenen Weg finden. Denn während Modelle wie das „Kübler-Ross Modell“ (Leugnung, Ärger, Feilschen, Depression und Akzeptanz) einige Trauernde beruhi- gen, können sich andere unter Druck gesetzt fühlen, gewisse Emotionen „durchzumachen“. Dabei ist Trauer so individuell und persönlich, wie es Liebe ist und darf nicht linear gedacht werden. Und obwohl sie schmerzt: Trauer ist auch ein Schutz- mechanismus. Sie zwingt den Körper, den Verlust nicht zu ignorieren, sondern ihn Stück für Stück zu integrie- ren. Sie hilft, Bindung neu zu ordnen und emotionale Stabilität zurückzugewinnen. Es geht also nicht darum, „loszulassen“, sondern neue Wege zu finden, die ent- standene Leerstelle zu verarbeiten. Trauer ist anstrengend – aber sie ist der Prozess, mit dem Körper und Seele lernen, weiterzuleben. Und da- rin liegt ihre eigentliche Bedeutung. Um mit den Worten des britischen Psychiaters Colin Murray Parkes zu schließen: „Trauer ist der Preis, den wir für die Liebe zahlen.“ Und was ist schöner im Leben, als geliebt zu haben? Auch wenn Trauer ein zutiefst persönlicher Prozess ist: Niemand muss ihn allein bewältigen. Kann oder möchte man sich nicht im eigenen sozialen Netz aus- tauschen, gibt es in Deutschland ein dichtes Netz an seriösen Angeboten, die Betroffenen helfen können, ihren Weg durch den Verlust zu finden: Die Malteser etwa bieten bundesweit Trauergruppen und Einzelbegleitungen an – inzwischen sogar digi- tale Räume, in denen Menschen anonym und nieder- schwellig Unterstützung finden. Der Bundesverband Trauerbegleitung vermittelt qualifizierte Begleiterin- nen und Begleiter vor Ort, während Organisationen wie VEID Familien nach dem Verlust eines Kindes auffangen und mit geschützten Räumen für Aus- tausch entlasten. Auch für junge Trauernde gibt es spezialisierte Hilfe: Die Nicolaidis YoungWings Stiftung unterstützt Kin- der, Jugendliche und junge Erwachsene, die Eltern oder Partner:innen verloren haben, mit Onlinebera- tung und Gruppenangeboten. Wer durch Suizid einen geliebten Menschen verloren hat, findet bei AGUS e. V. bundesweit Trauercafés und Selbsthilfegruppen, die genau diesen besonderen Schmerz kennen. Diese Ini- tiativen zeigen: Trauer braucht Gemeinschaft – und es gibt viele Orte, an denen sie getragen wird. m o c . s o t o h p t i s o p e d - m o c . l i a m t o h @ k u r a n _ m o d e e r f : d l i B Good News Magazin 25
Klimaschutz ist beliebter als gedacht Natur: Die große Liebe der Deutschen Liebe ist die schönste Sache der Welt – und ein Haufen Arbeit. Wir alle wissen: Man muss sie hegen und pflegen, sonst ist sie weg. Für unsere Liebe zur Natur gilt das genauso. Es reicht nicht die Natur einseitig zu lieben, man muss sich schon um sie kümmern. Zum Glück sehen das immer mehr Menschen in Deutschland genauso. Laut der aktuellen „Naturbewusstseinsstudie“ des Bundesumweltministeriums halten 74 % der Deutschen den Natur- und Klima- schutz für absolut dringlich – ein deutlicher Anstieg gegenüber 60 % vor zwei Jahren. Auch die Unterstützung für die Energiewende bleibt mit 59 % hoch. Good News Magazin Die Liebe zur Natur hat Schattenseiten. Warum? Weil die Menschen mit Sorge sehen, wie sich ihre Natur verändert. Mehr als die Hälfte der Erwach- senen in Deutschland (53 %) glaubt, dass sich die Land- schaften in den letzten 20 Jahren verschlechtert haben. So eine weitere Aussage der neuen Naturbewusstseins- studie. Laut den befragten Personen verschlechtert es sich, meistens durch gezielte Zerstörung, doch manch- mal paradoxerweise auch aus Liebe zur Natur. Denn immer mehr Menschen zieht es raus in die Natur. Sie erholen sich, nur nicht die Erholungsgebiete – diese ächzen unter der „Zuneigung“ zu vieler Tourist:innen. An vielen Orten ist dies zu beobachten. Besonders da, wo es sogenannten Massentourismus gibt, wie in den deutschen Alpen. Sie verzeichnen einen erheblichen Zuwachs an Besuchenden. So warnt Markus Drexler vom Bayerischen Bauernverband im Resümee des Sommers 2025, dass mehr Touristen Müll hinterlassen, Zäune offenlassen und Weidetiere stressen würden. 26 Good News Magazin
Anzeige Naturschutz: Die Menschen wollen mit anpacken. Wer liebt, muss auch Liebe zurückgeben. In diesem Zusammenhang gibt es eine weitere gute Neuigkeit aus der „Naturbewusstseinsstudie“: Die Mehrheit der Be- fragten ist überzeugt, dass der Erhalt und die Wieder- herstellung von Ökosystemen eine gesellschaftliche Aufgabe seien. Das bedeutet, dass man eben nicht nur auf Wirtschaft und Politik warten, sondern auch selbst mit anpacken solle. Ökoenergie ist zentral für den Naturschutz. Mit keiner anderen Maßnahme geht das privat so ein- fach und effektiv wie mit Ökoenergie. Er senkt den CO2-Fußabdruck um ein riesiges Stück, mindert Kli- maschäden und unterstützt so den Erhalt von Lebens- räumen für Tiere und Pflanzen. In weniger als fünf Mi- nuten – oft sogar schneller, wenn man alle Daten parat hat – lässt sich der Wechsel zu Ökostrom und Ökogas erledigen. Die Wirkung ist enorm: Wer umstellt, spart jedes Jahr hunderte, mit Heizenergie sogar tausende Kilogramm CO₂. Welche andere Einzelmaßnahme hat so viel Hebelwirkung? Nur der Verzicht auf Fernflüge erreicht ähnliche Werte – allerdings muss man sich da- für jedes Mal aufs Neue bewusst dagegen entscheiden. Beim Wechsel zu Ökoenergie genügt ein einziger Schritt. Und solange man nicht aktiv zurück in einen fossilen Tarif wechselt, läuft die Einsparung automa- tisch weiter – Tag für Tag. Allerdings muss man auf- passen, keinen „Blender-Ökostrom“ zu erwischen, der auf grün macht, aber in Wahrheit grau ist – etwa, weil der Ökostrom von einem Konzern kommt, der Ge- schäfte mit fossiler Energie macht. Selber nachrechnen und vergleichen? Der CO2-Fußabdruck-Rechner des Umweltbun- desamtes zeigt dir auch Einzelmaßnahmen. Wie du guten Ökostrom erkennst. Guten Ökostrom erkennst du am Grüner Strom-Label. Das Label garantiert, dass der Ökostrom zu 100 % aus erneuerbaren Energien ist, den Ausbau der Energie- wende fördert, und dass sein Anbieter gar nicht oder nur marginal mit der Kohle- und Atomstromindustrie verflochten ist. „Wirklich Ökostrom“ von Polarstern ist ein gutes Beispiel. Er ist mit dem Grüner Strom-Label zertifiziert, wird zu 100 % in Deutschland aus erneuer- barer Energie gewonnen und hat richtig viel Impact: Für jede Kilowattstunde, die Polarstern-Kund:innen nutzen, gehen 1 Cent in den Ausbau der erneuerbaren Energien. Außerdem fördert jeder Vertrag die Energiewende in Kambodscha und Madagaskar. Dort verhindert der Ein- satz von erneuerbarer Energie sogar die Abholzung der Wälder und hat so einen direkten Einfluss auf den Na- turschutz – und damit auch auf den Klimaschutz. Wechsle jetzt mit dem Code GNM20 und erhalte eine 20 € Gutschrift auf deine Jahresrechnung: www.polarstern-energie.de/wechseln Good News Magazin 27
m o c . s o t o h p t i s o p e d - e r a i t r e w o fl : d l i B m o c . s o t o h p t i s o p e d - e t n e v e l : k fi a r G Die verschiedenen Sprachen der Liebe Was sich liebt, das… spricht Während der Eine sich durch Komplimente am meisten geliebt fühlt, ist für die Andere körperliche Zuneigung der größte Liebesbeweis. Welche „Sprachen“ der Zuneigung sprechen wir und was gibt uns das Gefühl, geliebt zu sein?? Lisa Naggatz Die Festlichkeiten rücken heran, die große Frage stellt sich wieder: Worüber würden sich die Liebsten am meisten freuen? Sind es die gemeinsamen Momente, oder ist es doch der Gutschein fürs Saubermachen? Manche freuen sich auch über den Mixer, den sie schon lange im Auge haben, sich aber doch noch nicht überwinden konnten, zu kaufen. Dass sich jede:r über unterschiedliche Dinge freut, ist allseits bekannt – und kann auch mal für Missver- ständnisse sorgen. Wenn das Geschenk nicht so gut ankommt, wie erhofft, kann es daran liegen, dass wir aneinander vorbeigeredet haben – und das nicht un- bedingt im wortwörtlichen Sinn. Denn: Wir alle spre- chen unterschiedliche Sprachen, wenn es darum geht, unsere Liebe, Zuneigung und Wertschätzung zu zeigen. Wenn man sich nicht bewusst ist, dass das Gegenüber eine andere „Sprache“ spricht, fehlt trotz des durchdachten Geschenks für einen Spa-Besuch vielleicht eine liebevolle Karte. Doch die gute Nachricht ist: Wir alle können lernen, die „Sprache“ der anderen Person zu verstehen und zu sprechen. Sowohl die Forschung als auch eine Um- frage unter den GoodNews-Leser:innen bestätigt: Wir alle beherrschen viele „Sprachen“, in denen wir Liebe und Zuneigung zeigen und verstehen können. Sich mit den unterschiedlichen „Sprachen“ zu beschäftigen und darüber zu kommunizieren, kann Missverständnisse auflösen und die Verbindung zu der geliebten Person stärken. Denn letztendlich wollen wir alle die gleiche Botschaft übermitteln: Du bist mir wichtig. 28 Good News Magazin
m o c . s o t o h p t i s o p e d - V S K _ r a z e C - o k n e v o d U i - a n m r A : r e d l i B Wo führt die Liebe lang? Der Gedanke, dass wir Menschen unterschiedliche Wege haben, wie wir Liebe weitergeben und empfan- gen, ist vor allem Gary Chapman zuzuschreiben. Der studierte Theologe, Philosoph und Anthropologe ver- fasste basierend auf den zahlreichen Paartherapien, die er als Beziehungsberater gegeben hatte, 1992 ein Buch mit dem Titel „Die fünf Sprachen der Liebe“. Da- rin argumentiert er, dass jeder Mensch eine primäre Sprache der Liebe hat, also einen Weg, wie wir am liebsten Zuneigung erfahren. Zu verstehen, dass sich dieser Weg für jede Person unterscheidet und sich auf die Sprache der Liebe des Gegenübers einzustellen, erhöht laut Chapman das Gefühl von Erfülltheit in einer romantischen Bezie- hung. Die hauptsächlichen fünf „Sprachen“, über die wir Zuneigung und Liebe empfangen, sind ihm zu- folge: Lob und Anerkennung, Zweisamkeit, Geschenke, Hilfsbereitschaft und Zärtlichkeit. Auch wenn Chap- man sich in seinen Ausführungen vor allem auf die Ehe bezog, lässt sich sein Modell der „Sprachen der Liebe“ auch auf andere liebevolle Beziehungen übertragen. Zärtlichkeit oder körperliche Zuneigung Ob eine Umarmung, Massagen oder Händchen halten – all dies sind kleine Gesten, die dem Gegenüber zei- gen können, wie gerne man ihn oder sie hat. Physische Zeichen der Liebe sind universell und schaffen zusätz- lich zur physischen auch emotionale Nähe. Schon als Babys haben wir gelernt, dass Berührungen überle- benswichtig sind. Und somit sind sie wahrscheinlich auch die erste Sprache der Liebe, die wir erlernt haben. Denn körperliche Zuneigung steht für Sicherheit, Nähe und Geborgenheit. „Eine freundliche Berührung signalisiert uns: Du bist in Sicherheit“ Dr. Monika Eckstein, Psychologin und Neurowissenschaftlerin Zusätzlich steigern Berührungen das Wohlbefinden, reduzieren Stress und stärken das Immunsystem. Die Kraft der körperlichen Zuneigung kann laut For- schungserkenntnissen sogar Schmerzen lindern. Zweisamkeit Was haben gemeinsame Hobbys, Kochabende, Spazier- gänge oder tiefgründige Gespräche gemeinsam? Genau, das „Gemeinsam“. Ungeteilt und unabgelenkt Zeit mit einer geliebten Person zu verbringen, stellt ein tiefes Gefühl von Wertschätzung, Vertrauen und emotionaler Verbindung her. Dabei ist es meist nicht so wichtig, was genau unternommen wird, sondern hauptsächlich, dass man die ungeteilte Aufmerksamkeit der anderen Person genießt. Auch für die Kommunikation hat das viele Vor- teile: Längere und häufigere Gespräche, auch über Emotionen, helfen dem gegenseitigen Verständnis. Zu- dem kann Zweisamkeit dadurch auch das Gefühl von Nähe, Sicherheit und Vertrauen erhöhen. Lob und Anerkennung Komplimente machen glücklich. Und zwar sowohl für die Person, die sie gibt, als auch für die, die sie emp- fängt. Vielleicht sind sie daher auch laut Chapman die häufigste primäre Sprache der Liebe – wir alle lieben Komplimente. Die einzige verbale Sprache der Liebe hat auch den Vorteil, Kommunikation zu stärken. Es gibt sogar Belege dafür, dass Komplimente Stress abbauen und das Selbstvertrauen stärken. Eine Studie der Universität Mannheim unter der Leitung der Psy- chologie-Professorin Aguilar-Raab und Kolleg:innen zeigte auch einen positiven Effekt von Komplimenten bei Depressionen, denn „Komplimente (...) geben den Menschen das Gefühl, sich eingebettet und sozial in einem (guten) Rahmen wiederzufinden (...)“. Prof. Dr. Corina Aguilar-Raab, Professorin für Psychologie Good News Magazin 29
m o c . s o t o h p t i s o p e d - s o k l i M : d l i B Nur eine Sprache der Liebe? Warum das nicht geht Doch was ist dran an Chapmans Sprachen der Liebe? Insgesamt werden Chapmans Theorien als guter An- lass für Selbstreflexion gesehen, der Aufmerksamkeit auf Themen richten kann, die in einer Beziehung be- sprochen werden sollten – anders gesagt, um den Blickwinkel auf die (vielleicht unterschiedlichen) Be- dürfnisse in Sachen Liebe in Beziehungen zu richten. Kritik gibt es vor allem an Chapmans These, dass ein Mensch nur eine primäre Sprache der Liebe haben kann. Heute wird überwiegend davon ausgegangen, dass sich primäre Sprachen der Liebe mit der Zeit wan- deln können und auch mehrere Sprachen der Liebe gleichzeitig primär sein können. Eine 2024 im Journal Current Directions in Psycho- logical Science veröffentlichte Studie untersuchte die drei Hauptaussagen Chapmans, ob jeder Mensch eine primäre Sprache der Liebe besitzt, es überhaupt nur fünf Sprachen der Liebe gibt und Beziehungen erfüll- ter sind, wenn die Personen die Liebessprache des Gegenübers sprechen. Keine dieser Behauptungen konnte wissenschaftlich bewiesen werden, die Studie hat jedoch eine andere Metapher über die Liebe: „Liebe ist keine Sprache, die man lernen muss, sondern kann eher mit einer ausgewogenen Ernährung verglichen werden, in der man für eine langfristige Liebe unterschiedliche Dinge braucht“ Emily A. Impett, Haeyoung Gideon Park und Amy Muise, Psychologiewissenschaftler (eigene Übersetzung aus dem Englischen) 50 Shades of Liebe zeigen Was also gehört zu einer solchen, ausgewogenen Kom- munikation der Liebe? Sicher können Aspekte von Chapmans Love Languages dazuzählen. Auch die Unterstützung von Autonomie und persönlichen Zie- len kann Forschungen zufolge wichtig sein. Für ro- mantische Beziehungen konnte belegt werden, dass das gemeinsame Erinnern ein wichtiger Weg der Zu- neigung ist. Paare, die ihre Liebesgeschichte hin und wieder positiv rekapitulieren, besäßen eine 94-pro- zentige Wahrscheinlichkeit, auch in Zukunft glücklich in der Beziehung zu bleiben. Geschenke Ob zu Weihnachten, Geburtstagen oder einfach zwi- schendurch: Geschenke gehören maßgeblich zum Le- ben dazu und zeigen anderen, dass man an sie gedacht hat. Dennoch geht es bei der Liebessprache der Ge- schenke (zumindest im Idealfall) nicht vorwiegend um das Materielle, sondern viel mehr um den Gedanken hinter den Geschenken. Wenn sich die schenkende Person an ein bestimmtes Detail erinnert hat, bestätigt das für die Beschenkten die Zugehörigkeit und die Stärke der emotionalen Bindung. „Ein Geschenk drückt Wertschätzung und Aufmerksamkeit gegenüber den Beschenkten aus.“ Dr. Britta Krahn, Wirtschaftspsychologin Schenken ist laut Wirtschaftspsychologin Dr. Britta Krahn auch eine der wenigen universellen Handlun- gen in zwischenmenschlichen Beziehungen in allen Kulturen und besitzt eine wichtige soziale Funktion. Wir schenken, um unser Beziehungsnetz zu erhalten und zu vergrößern. Hilfsbereitschaft In guten wie in schlechten Zeiten … jeder Mensch braucht irgendwann Unterstützung und für die Liebs- ten zu kochen, vor allem bei Krankheit, hat schon im- mer das Herz höher schlagen lassen. Durch Hilfsbe- reitschaft wird gezeigt, dass man an die Geliebten so- wie an deren Bedürfnisse denkt. Diese Fürsorge und Unterstützung stärken das Gemeinschaftsgefühl und zeigen die gegenseitige Wertschätzung. Doch Hilfsbe- reitschaft nützt nicht nur der Person, der geholfen wird – Hilfe zu leisten führt zur Ausschüttung des Glücks- hormons Endorphin sowie einer gesteigerten Produk- tion von Serotonin, welches stressabbauend wirkt. 30 Good News Magazin
Dass die Kraft schöner gemeinsamer Erinnerungen auch in unseren anderen Beziehungen zum Tragen kommt, wird uns spätestens bewusst, wenn wir gemein- sam mit der Familie schöne Kindheitserlebnisse ausgra- ben oder mit Freund:innen über vergangene Abenteuer lachen. Genauso ist es für alle Beziehungen wichtig, eine positive Atmosphäre zu schaffen und im Umgang miteinander wertschätzend und respektvoll zu sein. Aber damit genug von der Forschung, denn letztendlich ist nur eines sicher: Die Art und Weise, wie wir unsere Liebe zeigen, ist höchst individuell und von Person zu Person, von Beziehung zu Beziehung anders. Darum haben wir auch unsere GoodNews-Community gefragt, welche „Sprache der Liebe“ sie am häufigsten sprechen. Vor allem Zweisamkeit, Berührungen und hilfsbereite Akte der Zuwendung schnitten sehr gut ab. Beson- ders spannend dabei: Auch, wenn wir nach „eurer Love Language“ gefragt hatten, gaben viele von euch mehr als eine „Love Language“ an. Für einige war auch direkt klar, dass alles dabei sein muss, „alles zu seiner rechten Zeit“ nämlich. Und natürlich waren fünf Sprachen der Liebe nicht ausreichend. Denn natürlich kann Liebe sprichwört- lich auch durch den Magen gehen (Verweis auf GF- Story). Aber auch weniger sprichwörtlich belegte Dinge wie gemeinsames Genießen von Ruhe, emotio- nale Kommunikation und vor allem auch Zuhören sind für euch Wege, geliebten Menschen zu zeigen, wie sehr sie geschätzt werden. Für meine Liebsten, ein bisschen wasvon allem <3 Zuhören. Mitfühlen. Einfach helfen, wenn ich kann Berührungen Essen Für geliebte Menschen kochen Worte emotionale Kommunikation Eine Kombination von allem! Jede einzelne Sache zur richtigen Zeit! Miteinander Ruhe genießen Gesten der Zuneigung Geschenke machen Alle und Zuhören Egal welche Sprache der Liebe - Menschen finden zusammen Unter dem Strich lässt sich sagen: Alle Formen der Zu- neigung sind wichtig und wertvoll, wenn sie für uns, unsere Lieben und unsere Beziehung passen. Letzt- endlich gibt es wahrscheinlich mindestens genauso viele Sprachen der Zuneigung wie Sprachen der Kom- munikation. Und die übertreffen die fünf von Chap- man um mehr als das 1400-fache! Good News Magazin 31
Mit Engagement und Fürsorge gestalten junge Menschen ein neues Rumänien Dracula und Ceausescu sind Vergangenheit Unter Menschen, die in der kommunistischen Zeit in Rumänien aufgewachsen sind, aber auch allgemein in Westeueropa gibt es viele voreingenommene Assoziationen mit dem Land und seiner Bevölkerung. Die Realität sieht ganz anders aus: ein Land in Bewegung, voller kulturellem Reichtum, Farbenpracht und neuen Entwicklungen – Dank der vielen, vor allem jungen Menschen, die sich engagieren. Bernd Schuster m o c . s o t o h p t i s o p e d - a e t s i i r c m e : d l i B Das kommunistische Rumänien war für mich und meine Familie eine schlimme Zeit. Mächtige Männer aus Politik und Sicherheitsdienst drangsalierten die Bevölkerung. Wie in jeder Diktatur hatte vor allem die Jugend keine Stimme. Sie wurde für das politische Sys- tem getrimmt. Auch ethnische Minderheiten gerieten ins Visier der Repressalien, so wie wir Siebenbürger Sachsen. Unsere Vorfahren waren im 12. Jahrhundert in das heutige Transsilvanien eingewandert, wo sie über Jahrhunderte friedlich zusammen mit Rumänen, Roma und Ungarn lebten. Meine Eltern fassten schließlich den für sie so schwe- ren Entschluss, aus dem sehr kargen Rumänien aus- zuwandern. Nach vielen erfolglosen Versuchen ge- lang uns das 1970. Sie wollten uns Kindern, meiner sechsjährigen Schwester und mir als Vierzehnjähri- gem eine bessere Zukunft in Deutschland ermögli- chen, eine Ausbildung und ein Leben in Freiheit. Ich bin ihnen heute noch sehr dankbar, dass sie uns die- sen Weg geebnet haben. 32 Good News Magazin
m o c . s o t o h p t i s o p e d - r e b e h r U : d l i B Sibiu Postkarte von Combinatul Poligrafic Casa Stiintei 1958 Der Kulturschock Viele Jahre später, nachdem meine Eltern verstorben waren, reiste ich mit 60 Jahren wieder für einen länge- ren Aufenthalt nach Rumänien. Ich fand ein Land vor, das völlig anders war als das karge, trostlose und pers- pektivlose Land meiner Erinnerungen. In meiner Geburtsstadt Hermannstadt – oder Sibiu, wie sie auf Rumänisch heißt – blühte das Leben. Fröh- liche Menschen schlenderten durch die pittoreske Altstadt, man hörte „Oh“ und „Ah“ von Tourist:innen, und die Smartphones wurden gar nicht mehr wegge- steckt. Keine Polizisten standen an jeder Ecke, nur die offenen schmalen „Augen-Fenster“ auf den wunder- bar renovierten roten Dächern beobachteten einen. In den Geschäften und Restaurants waren nicht nur die Preise ausgezeichnet, junge Menschen kümmerten sich um einen, sei es auf Rumänisch, Englisch oder Deutsch. Abends erschallte Musik aus gut besuchten Kneipen, Jugendliche mit Bubble-Tea oder Hafer- Cappuccino in der Hand schlenderten bis spät in die Nacht entlang der Stadtmauer. Es gäbe noch viel über weitere Veränderungen zu be- richten. Die jungen hilfsbereiten Menschen haben es mir aber besonders angetan. Insbesondere die Art und Weise, wie sie sich für ihr Umfeld einsetzen – freiwillig, ehrenamtlich und mit Herzblut. Von vielen Beispielen möchte ich drei Herausragende kurz anreißen: zwei aus dem Bereich Natur, die „Via Transilvanica“ und die „Foundation Conservation Carpathia“ und aus der Kultur das Internationale Theaterfestival „Festivalul Internațional de Teatru de la Sibiu“ (FITS). Denn so wie die Zukunft grundsätzlich der Jugend ge- hört, brauchen auch Natur und Kultur das besondere Engagement und die Hilfe der jungen Menschen. Es ist ihre Zukunft. Und in Rumänien gibt es das. Ich durfte diese Aufbruchsstimmung miterleben. Perspektiven für junge Menschen Die demografische Erklärung für so viele junge Leute liegt in der sogenannten Zwangsgeburtenpolitik, an- gestoßen von dem 1965 bis 1989 herrschenden Dikta- tor Nicolae Ceaușescu. 1966 verabschiedete dieser das „Dekret 770“, das Abtreibungen und Verhütungsmittel verbot. Das Gesetz wurde streng durchgesetzt, Aus- nahmen gab es nur wenige. Frauen mussten mindes- tens vier bis fünf Kinder haben und 40 Jahre alt sein, bevor sie wieder selbst über ihre Fortpflanzung selbst entscheiden konnten. In dieser Zeit, bekannt als „Dec- retei“, erblickten fast doppelt so viele Babys das Licht der Welt als zuvor. 1990 erreichte die rumänische Be- völkerung einen Höchststand von 23,2 Millionen Menschen – 1950 waren es noch knapp 16 Millionen Menschen gewesen. Auch wenn ein großer Teil aus diesen geburtenstarken Jahrgängen ins Ausland ging, kehren viele bis heute zurück. Denn die Lebens- und Arbeitsbedingungen in Good News Magazin 33
Rumänien bieten inzwischen gerade jungen Leuten echte Perspektiven. Darum setzen sie sich für ihr Land ein – so wie 2017 bei den Protesten gegen Korruption. Ihr Slogan: „Wir bleiben hier! Verschwinden sollt ihr!“ hallt bis heute nach. Sie wollen zeigen, wie man die Zu- kunft des eigenen Landes mitgestalten kann. Dabei ist es hilfreich, dass Rumänien viele bekannte Schulen und Universitäten mit einem wachsenden An- teil internationaler Studierender hat. Gemeinsam ent- wickeln junge Menschen in Rumänien ein Bewusstsein für globale Herausforderungen, vernetzen sich und nutzen das rasche Wirtschaftswachstum, um innova- tive Start-ups zu gründen. Vor allem aber zeigen sie ein wachsendes Bewusstsein für soziale und ökologische Themen – und setzen sich aktiv und geradezu fürsorg- lich für die Natur und Kultur in ihrem Land ein. Die Via Transilvanica – Erfolgsprojekt dank Freiwilliger Die Wälder Transsilvaniens als „grüne Lunge Europas“ zu schützen, haben sich junge Menschen, vor allem junge Freiwillige, zur Aufgabe gemacht. Der Weitwan- derweg „Via Transilvanica“ ist so ambitioniert wie be- eindruckend. Er hat zu Recht am 13. Juni 2023 den European Heritage Award erhalten. Auf der Internet- seite dieser Institution heißt es: „Die Via Transilvanica ist ein Wanderweg, der sich über mehr als 1.400 Kilo- meter erstreckt, dabei 20 verschiedene ethnische und kulturelle Regionen Rumäniens und rund 400 Ge- meinden verbindet und zwölf UNESCO-Weltkulturer- bestätten präsentiert. Das bemerkenswerte Projekt wurde von Tășuleasa Social geleitet, einer Nichtregie- rungsorganisation, die seit über 23 Jahren in den Be- reichen Bildung, Soziales, Umwelt und Kultur aktiv ist. Nach vier Jahren engagierter Arbeit unter Beteiligung der lokalen Gemeinden und über 10.000 Freiwilligen wurde der Wanderweg 2022 eingeweiht.“ 34 Good News Magazin m o c . s o t o h p t i s o p e d - r e b e h r U : d l i B Ein besonderes Merkmal dieses Weges sind die 1400 individuell erstellten Stelen, die jeden Wanderkilometer auf den 73 Etappen markieren.
Ich habe die Nichtregierungsorganisation Tășuleasa Social im Norden Rumäniens besucht und von dort beeindruckende Impressionen mitgebracht. Denn nicht nur die Schönheit der Natur, die liebevolle Ge- staltung des Wanderweges und die historischen und kulturellen Sehenswürdigkeiten auf seinem Pfad ha- ben mich begeistert, sondern die Leidenschaft, mit der die Menschen vor Ort dafür gesorgt haben, dass dieser Wanderweg entstehen konnte – und mit der er bis heute gepflegt wird. m o c . s o t o h p t i s o p e d - r e b e h r U : d l i B Die kulturelle Vielfalt springt einem in Städten wie Sibiu ins Auge: Der evangelische Kirchturm wechselt sich mit dem der ungarischen Gemeinde und der orthodoxen Kirche ab, die Gebäude der griechischen Minderheit sind ebenso restauriert wie die meisten Häuser. Und in der pittoresken Altstadt jagt eine kulturelle Veranstaltung die andere. Jedes Jahr sind tausende Menschen, vor allem junge Leute unterwegs, um den Pfad und die Natur, die er durchquert, sauber zu halten und zu schützen. So mo- bilisierte die Aktion „Ziua Bună pe Via Transilvanica“, auf Deutsch „Guter Tag auf der Via Transilvanica“, am 31. Mai 2024 über 3.400 Schüler, Eltern und Freiwillige aus 84 Schulen in mehrerenLandkreisen, um den Weg zu pflegen. Junge Menschen für den Schutz der Karpaten Die „Foundation Conservation Carpathia“, eine NGO, treibt den Schutz der riesigen Wälder, der Bären, Wi- sente und der gesamten ökologischen Vielfalt der Kar- paten voran. Ihr erklärtes Ziel ist es, eines der größten zusammenhängenden Naturschutzgebiete Europas zu schaffen, einen „rumänischen Yellowstone“. Auch hier arbeiten viele junge Menschen mit: Betreuerinnen und Betreuer im Ausbildungszentrum, Fahrer – und ganz besonders Ranger und Tierpfleger:innen. Die Karpaten sind eine beinahe menschenleere Natur mit ausgedehnten Wäldern, Bären und Wisenten. Was ist das Besondere an diesen jungen Menschen? Viele von ihnen kommen aus einem traditionellen Um- feld, wo man Tiere gejagt und geschlachtet, aber nicht geschützt hat. Die Bäume wurden gefällt, um Holz zum Heizen und Kochen zu haben. Jetzt jedoch schützen und pflegen diese jungen Menschen die Natur. „Carpathia“ unterstützt sie, beispielsweise durch das Carpathia-Stipendium, bei dem jedes Jahr 20 Schüler:innen der siebten Klasse mit besonderem In- teresse an Natur und Umweltschutz finanzielle Unter- stützung, insbesondere aber Möglichkeiten zur Wei- terbildung bekommen. Die Organisation fördert zu- dem langfristiges Engagement durch das „Junior Ran- ger-Programm“, das Kinder über mehrere Jahre zu freiwilligen Rangern ausbildet. Seit 2023 haben über 100 Kinder ab 12 Jahren daran teilgenommen. Leidenschaft für Theater und Performance Nicht nur die Natur, auch die Kultur erlebt in Rumä- nien durch das Engagement junger Freiwilliger Auf- wind. Ich selbst bin leidenschaftlicher Besucher des Festivalul Internațional de Teatru de la Sibiu (FITS), ein internationaler Treffpunkt der Kultur mit zahlreichen kostenlosen Veranstaltungen aus den Bereichen Thea- ter, Tanz, Musik und Zirkus, die in der ganzen Stadt Sibiu stattfinden. So kann ich immer wieder bezeugen, wie viele junge Menschen bei dem Festival mit dabei sind und durch ihr ehrenamtliches Engagement dafür sorgen, dass es jedes Jahr aufs neue stattfinden kann. 2025 zählte das Festival offiziell rund 600.000 Besu- cher bei 842 Veranstaltungen mit Künstler:innen aus 82 Ländern. Damit ist es nach Avignon und Edinburgh das drittgrößte Theater- und Performancefestival der Welt. Weil so viele Events im Freien stattfinden, sind unzählige helfende Hände nötig. Diese gehören Good News Magazin 35
größtenteils Freiwilligen, meist sehr jungen Menschen. Das Festival hat dafür ein eigenes Freiwilligenpro- gramm entwickelt. Am Ende erhalten die Teilnehmen- den ein Zertifikat, das ihnen erworbene Fähigkeiten bescheinigt. Laut Informationen des Festivals nehmen jedes Jahr rund 500 Volunteers aus aller Welt teil – über 80 Prozent von ihnen junge Menschen. Da das für mich einzigartig und sensationell war, habe ich während dem letzten Festival, im Juni 2025, mit zwei jungen Frauen als Volunteers Gespräche geführt. Ariana und Teodora, beide 18 Jahre alt, sind zum zwei- ten bzw. dritten Mal bei dem Fest dabei. Ariana hat die Schule dieses Jahr mit dem „Baccalaureate“ abgeschlos- sen, Teodora wird das im kommenden Jahr machen. Zehn Tage lang, etwa sechs Stunden täglich und mit nur zwei bis drei Ruhetagen sind sie im Einsatz. Ein enor- mer Einsatz – ohne Entlohnung. Denn als ich frage, was die Volunteers für ihren Einsatz bekommen, antwortet Teodora spontan und direkt: „No money“ und Ariana ergänzt: T-Shirt, Namensschild, freien Eintritt bei eini- gen Veranstaltungen, keine Verpflegung. Dennoch sind beide nicht zum ersten Mal als Volunteer dabei, und so schießen mir sofort die Fragen: „Warum machst du das?“ und „Was bringt dir das?“ durch den Kopf. „Wir tun es, weil es uns Spaß macht“, antwortet Teo- dora, „und es gibt uns Lebenserfahrung.“ Natürlich sei auch das Zertifikat eine Motivation, ebenso wie bes- sere Chancen bei den Universitäten, die es schätzen, wenn Bewerber:innen sich freiwillig engagiert haben. Es sei also zu ihrem eigenen Vorteil, sich zu engagie- ren, erklärt Teodora. Auch Ariana bestätigt, dass das Zertifikat natürlich einer der Gründe sei, warum sich Freiwillige für das Projekt engagieren. Doch sie ergänzt: „Ich glaube je- doch, dass es für viele von uns eine viel größere Moti- vation gibt, so ist es auch bei mir. Ich bin leidenschaft- lich am Theater interessiert, und dieses Programm gibt mir die Möglichkeit, viele Vorstellungen kostenlos zu sehen und zu erleben, was hinter den Kulissen passiert. Ich hatte die Gelegenheit, viele Menschen aus der Theaterwelt kennenzulernen und aktiv an der Kultur teilzunehmen – das hat mich motiviert, drei Jahre in Folge zurückzukehren. Außerdem ist während dieser zehn Tage des Festivals die ganze Stadt voller wunderbarer Energie, die einen trotz der Müdigkeit positiv auflädt. Ich habe Menschen getroffen, die mich verändert haben, neue Freund- schaften geschlossen und mich in vielerlei Hinsicht weiterentwickelt. Ich habe viele Fähigkeiten und Kenntnisse erworben und gelernt, offen gegenüber al- len Menschen und Kulturen zu sein.“ 36 Good News Magazin m o c . s o t o h p t i s o p e d - r e b e h r U : d l i B
Regelmäßiges Engagement mit Herzblut Ich wollte noch wissen, ob die beiden noch bei anderen Veranstaltungen als Volunteer mitmachen und wie sie davon erfahren haben. Ariana meinte dazu: „Im letzten Jahr war ich auch als Freiwillige in einer Organisation namens Interact aktiv, durch die wir verschiedene Ver- anstaltungen organisiert und so Spenden für verschie- dene Zwecke gesammelt haben“. Die meisten Pro- gramme, an denen sie teilgenommen hat, habe sie durch Freunde und Kollegen entdeckt. Auch Teodora engagiert sich regelmäßig ehrenamtlich. Sie war auch beim Sibiu Marathon dabei, der zwei Tage lang für Jung und Alt Läufe anbietet und bei dem 300 Volunteers mitwirken. „Es gibt viele andere Gelegenhei- ten, als Ehrenamtliche zu arbeiten“, berichtet sie, „Sibiu ist eine sehr aktive Stadt mit vielen Festivals und Kon- zerten, zum Beispiel das Astra Film Festival, Focus in the Park, Sunbreak und noch viel mehr.“ Darum gebe es viele Freiwilligenteams – sie selbst ist Mitglied bei The Volunteers Academy, dazu gibt es weitere Organisatio- nen wie Interact und Smile Sibiu. Vom Ticketverkauf für Fußballspiele und Shows bis hin zu Hilfsaktionen für Menschen in Not helfen sie dort, wo sie gebraucht wer- den, erklärt Teodora, „zum Beispiel organisieren wir in der Weihnachtszeit Geschenke für arme Familien“. Vom Volunteering des FITS hat sie über die Schule er- fahren: „Das Festival schickt den Link an die Schulen. Sie leiten ihn uns weiter und wir bewerben uns dort.“ Nach der Zusage müssen die Freiwilligen eine Prüfung machen. Englisch sei eine Voraussetzung, zumindest Grundkenntnisse, so Teodora, und „wir müssen viel über Sibiu und über das Festival selbst wissen“. Ariana und Teodora wurden im Herbst letzten Jahres geprüft, berichten sie. Wenn man die Prüfung geschafft hat, gibt es laut Teodora verschiedene Kurse. Wir hatten auch Koordinator:innen, die uns geholfen haben und mit denen wir besprechen konnten, was wir machen sollen.“ Ich glaube allen, die das lesen, wird deutlich, mit wel- chem Aufwand und Leidenschaft hier eine kulturelle Veranstaltung auf die Beine gestellt wird. Dabei ist zu bedenken, dass von den wenigen Theatervorstellungen abgesehen, alle Aufführungen kostenlos sind. All das ist nur möglich Dank dem Einsatz von Menschen wie Teodora und Ariana – und ich bin immer wieder aufs Neue begeistert und beeindruckt davon, wie viele es von ihnen hier gibt. Wie mache ich weiter? Seit 2015, nur unterbrochen durch die Coronazeit, ver- bringe ich jedes Jahr mehrere Wochen in Rumänien, insbesondere als ehrenamtlicher Reiseorganisator und Begleiter. Ich möchte auf nicht-kommerzieller Basis Familie und Freunden die Schönheiten des Landes nä- her bringen und Vorurteile abbauen, die ihren Ur- sprung in der Vergangenheit haben. Dabei fokussiere ich mich vor allem auf das, was junge Menschen auf die Beine stellen, und unterstütze sie darin. Es ist für mich sehr motivierend und macht mich glück- lich, dass auch meine Begleiterinnen und Begleiter bei meinen Reisen von der positiven Ausstrahlung dieser jungen Generation, die sich nachhaltig um die Zukunft ihres Landes kümmert, tief beeindruckt sind. Ich wurde in Rumänien geboren und erlebte dort eine sehr dunkle Zeit. Heute, mehr als 50 Jahre später, zieht es mich je- des Jahr wieder hin, weil ich von der Aufbruchstim- mung und dem fühlbaren Idealismus begeistert bin. m o c . s o t o h p t i s o p e d - u o t i r d n a m i : d l i B Good News Magazin 37
Das Glück sozialer Bindungen Freundschaft: das stille Fundament unseres Lebens Nähe hat viele Gesichter, eines davon ist Freundschaft. Warum Freund- schaft dabei eine ganz besondere Form der Liebe ist und mindestens genau so tief geht, wie unsere anderen sozialen Beziehungen. Sophie Fallnacker Mittwoch, 17 Uhr im Seniorenheim Marie sitzt in ihrem Zimmer und hält freudig Ausschau aus dem Fenster – hoffend, schon bald zwei ganz besondere Be- sucher:innen zu erspähen. „Heute müssen Sie mich nicht zum Abendessen holen!“, er- klärt sie der Pflegerin. Mittwoch ist ein besonderer Tag, denn Marie geht zum Italiener in die Stadt. Das ist Tradition. Jeden Mitt- woch wird sie abgeholt, früher noch aus der Wohnung im dritten Stock des Reihenhauses, in dem sie über drei Jahrzehnte wohnte. An dem Abend, wo ihr Mann sich früher mit seinen Freunden zum Kartenspielen traf, traf sie sich zum Abendessen mit ihrer Freundin und ihrem Sohn – und tut es auch heute noch. Kennengelernt haben sie sich vor inzwischen über 20 Jahren beim Tai-Chi-Kurs in der Volkshochschule. Es m o c . s o t o h p t i s o p e d - b n o r a b : d l i B m o c . s o t o h p t i s o p e d - 3 1 1 a n i r a M : d l i B 38 Good News Magazin
war eine Freundschaft, die wohl keine:r von ihnen so erwartet hätte, auch aufgrund des Altersunterschiedes. Doch so ungewöhnlich die Freundschaft auch sein mag, sie hält. Marie ist letztes Jahr 90 Jahre alt gewor- den und noch immer nehmen sie sich jeden Mittwoch Zeit füreinander. Sogar zu Maries Geburtstagsfeier mit der Familie waren die beiden eingeladen. Auch wenn Marie sich nicht mehr so gut an Dinge er- innern kann wie früher und die Tage manchmal ver- schwimmen: Mittwoch, das weiß sie, ist und bleibt ein besonderer Tag. „Heute brauchen Sie mich nicht zum Abendessen zu holen“, erklärt sie ihrer Pflegerin strah- lend. „Heute holen mich meine Freunde ab“. Maries besondere Freundschaft zeigt, wie wichtig Freund:innen für unser Leben sind, und zwar in jedem Alter. Denn sie sind diejenigen, die uns über Jahre be- gleiten, die bei uns bleiben und für uns da sind. Auch – oder gerade – wenn es mal schwerer wird. m o c . s o t o h p t i s o p e d - u r . l i . a m e n o z p p c : d l i B Freundschaft: Eine unterschätzte Beziehungsform (?) Allzu oft wird romantische Zweisamkeit als ultimatives Ziel idealisiert und Freundschaften dabei hintenange- stellt, teils sogar ganz vergessen. Dabei müssen nicht auch, sondern besonders diese gepflegt und mit Wert- schätzung behandelt werden. Melanie Dirks, Professorin an der McGill Universität in Montreal, beschreibt Freundschaften als „erste Be- ziehung in unserem Leben, die wir uns selber aussu- chen können“. Daher haben sie eine ganz besondere Bedeutung in unserem Leben, die anders gar nicht ge- füllt werden könnte. Freundschaftliche Beziehungen gründen sich auf Ehrlichkeit, Vertrauen, gemeinsame Interessen – und all das mit einer Besonderheit: ohne den Druck, gefallen zu müssen. Studien konnten feststellen, dass zwischen engen Freund:innen sogar eine ähnliche Gehirnaktivität be- steht – unter anderem in Bereichen verantwortlich für Motivation, Identität und sensorische Verarbeitung. Freundschaften helfen uns dementsprechend zu reali- sieren, wer wir selbst sind und wie wir mit anderen Menschen umgehen, noch bevor wir weitere Bezie- hungen eingehen. Sie geben uns Raum, Gedanken und Gefühle zu teilen, Empathie zu lernen, Unterstützung zu geben und auch zu lernen, danach zu fragen. Damit sind freundschaftliche Beziehungen emotional min- destens genauso bedeutsam und wenn wir Glück ha- ben auch Teil unserer romantischen und familiären Beziehungen. Eine Hymne an die Freundschaft Historisch gesehen kamen Freund:innen eher aus der eigenen Verwandtschaft. Das hat sich heutzutage sehr gewandelt: Freundinnen sind so viel mehr als nur Be- kanntschaften und Familie nicht automatisch Freunde. Der Begriff der „Chosen Family“ gewinnt damit immer mehr an Bedeutung und bietet ein ganz neues Konzept des Zusammenseins. Denn so nehmen Freund:innen die Rolle ein, die früher Familienmitgliedern zugestan- den wurde. Ob Ersatz oder Ergänzung bieten sie genau das, was wir uns in einer Familie wünschen: Zuverläs- sigkeit, Nähe und Vertrauen. Der französische Philosoph Geoffroy de Lagasnerie beschäftigte sich viel mit der Bedeutung von Freund- schaft in der heutigen Gesellschaft, nicht zuletzt in seinem 2023 veröffentlichten Buch „Une aspiration au dehors: Éloge de l'amitié“, auf Deutsch: „Ein Leben außerhalb: Lob der Freundschaft“. Er selbst bezeichnet dabei seine Freund:innen als Mittelpunkt seines Le- bens – seine selbst gewählte Familie. Als Grund für die Intensität der Freundschaft bezieht er sich auf die gesellschaftlichen Erwartungen, die für romantische Beziehungen herrschten. Viele Menschen fühlten sich unter Druck gesetzt: möglichst schnell ei- ne:n Partner:in finden, zusammenziehen, vielleicht so- gar eine Familie gründen. Bei Freundschaften ist das anders, so Lagasnerie: Wir können frei entscheiden, wann und mit wem wir uns anfreunden – der gesellschaftliche Druck kann dabei meist außen vor bleiben. Das führt dazu, dass wir in unseren Freundschaften oft ehrlicher und entspannter sein können, als in anderen sozialen Konstellationen. Good News Magazin 39
e 1 9 1 7 v o n Gaetano Bellei d n Drei Fre u Eine historisch überlebenswichtige Bindung Die Psychologin Marisa G. Franco ist der Meinung, dass romantische und platonische Liebe viel mehr ge- meinsam haben, als man so denken könnte, und dass „viele von verschwimmenden Grenzen zwischen den Beiden“ profitieren könnten. Sie geht sogar so weit zu sagen, dass wir uns im Potenzial unserer Freundschaf- ten limitieren, wenn Verletzlichkeit und Intimität nur für romantische Beziehungen reserviert werden. An- dersherum bestätigen Ergebnisse einer Umfrage des British Household Panel: Menschen in einer romanti- schen Partnerschaft sind fast doppelt so glücklich, wenn sie sich gleichzeitig als Freund:innen ansehen. Egal wie genau wir nun Freundschaft verstehen und leben, sicher ist in jedem Fall: Sie ist, genau wie Familie und Partnerschaft, eine Urform menschlichen Zusam- menseins. So zumindest argumentiert der Kassler So- ziologe Janosch Schobin. Ihm zufolge gab es freund- schaftliche Beziehungen wohl schon in prähistori- schen Zeiten. Der Mensch ist nunmal ein soziales Lebewesen und als Gruppentier auf andere Menschen angewiesen. Darum ist Freundschaft auch ein univer- selles Phänomen, das in jedem Kulturkreis besteht. In späteren Zeiten dienten Freund:innen im ganz ma- teriellen Sinn als soziale Absicherung, bürgten und ge- währten Kredite und standen im Fall eines Angriffs mit Waffen zur Verteidigung bereit. Freundschaftsschwüre sind also kein Mythos, sondern waren Überlebenspra- xis. Ohne dieses soziale Netz konnte es schwerer wer- den, zu überleben – ganz wie heute auch noch. Was eine gute Freundschaft so leistet Das mag dramatisch klingen, insbesondere in dem privilegierten deutschen Kontext, in dem die meisten von uns leben. Doch trotz unseres Lebens in Frieden und Sicherheit sind gesunde menschliche Beziehun- gen für uns extrem wichtig. Sie sind nicht nur gut für unser psychisches Wohlbefinden, sondern helfen uns ganz konkret, langfristig gesund zu bleiben, so der Stand der Forschung. Die Harvard Grant Study of Adult Development ist eine der am längsten durchgeführten Studien über- haupt. Seit 1938 erforscht die Studie die Faktoren für ein gesundes, erfülltes Leben. Das Ergebnis lässt sich tatsächlich sehr simpel zusammenfassen: Wer gute menschliche Beziehungen hat, ist langfristig im Ver- lauf des Lebens gesünder und glücklicher. Nun untersuchte die Studie nur weiße Männer mit einem Abschluss in Harvard, zugegebenermaßen eine selektive Gruppe. Doch weitere Forschungen bestäti- gen die Ergebnisse. So wurden für eine Studie der Mi- chigan State University 320.000 Menschen aus 99 Ländern zum Thema Freundschaft befragt. Wenn auch die genauen Resultate sich je nach Region und Kontext unterschieden, war die Tendenz doch gleich – und ein- deutig: Personen, die Freundschaften priorisierten, ging es mental und physisch besser, sie waren glückli- cher und insgesamt selbstbewusster. Das galt interessanterweise auch oder insbesondere für Menschen, die in unsicheren Verhältnissen leben und untermauert eine Weisheit, die wir wohl alle schon gehört haben: Freundschaften sind umso wichtiger, wenn es hart auf hart kommt. Dann bewahren sie uns im Zweifel vor (noch größerem) Leid: „Angesichts der Herausforderungen des Lebens scheint es ein Puffer oder Schutzfaktor gegen einige der negativen Folgen zu sein, die wir sonst erleben könnten, wenn wir enge Freund:innen haben, an die wir uns wenden können“, erklärt Psychologie- professorin Catherine Bagwell vom Davidson College in North Carolina. m o c . s o t o h p t i s o p e d - s t o h s e k m i : d l i B 40 Good News Magazin
m o c . s o t o h p t i s o p e d - y i k s t e v o h k r e V r u t r A : d l i B Gut für Geist – und Körper Dass gute Freundschaften gut für die Psyche sind, klingt logisch. Dass sie genau darum auch gut für unsere körperliche Gesund- heit sind, wird wohl erst auf den zweiten Blick klar. Doch die Verbindung ist so nachweisbar wie logisch: Sprechen wir in Stresssituationen mit Freund:innen, denen wir vertrauen, senkt das den Blutdruck. Sogar der Puls beruhigt sich, wenn wir anstrengende Situationen gemeinsam mit befreundeten Menschen durchleben. Alleine die Umarmung eines geliebten Menschen kann laut dem Hamburger Biopsychologen Sebastian Ocklenburg so einiges bewirken. „Es ändert zwar de facto nichts an der weltpolitischen Lage“, merkt Ocklen- burg an, helfe aber dabei, Stresshormone zu reduzieren. Statistisch gesehen erkranken Menschen mit gesunden sozialen Beziehungen nicht nur weniger häufig an De- pressionen, sondern sterben auch mit geringerer Wahr- scheinlichkeit an Herzkrankheiten oder chronischen Krankheiten, so die Erkenntnisse mehrerer Studien. Für Menschen ohne tiefere soziale Bindungen verläuft der Effekt leider umgekehrt. Studien zufolge leiden sie erheblich mehr unter sowohl physischen als auch psy- chischen Problemen. Immerhin: Es ist nie zu spät, Freundschaften zu bilden. Und wie wir von Marie ler- nen durften, hat das auch absolut nichts mit dem Alter zu tun. Ganz im Gegenteil – Freundschaft kommt in allen Formen und in jeder Altersklasse. Auch solche, die erst im späteren Leben geformt wurden, können einen großen Effekt auf unser Wohlbefinden haben und uns langfristig beeinflussen. Dabei reicht es auch schon aus, klein anzufangen. Kol- leg:innen, denen man in der Pause begegnet, ein Lä- cheln an eine fremde Person im Park, oder kurzer Smalltalk in der Supermarktschlange – all diese Inter- aktionen können stark positive Auswirkungen auf unser Wohlbefinden haben. Noch besser wird es, wenn wir tiefgründige Gespräche mit Fremden führen. Diese steigern näm- lich das Glücksge- fühl und könnten es in Zu- kunft erleichtern, tiefere Freundschaften zu knüpfen, so der Psychologe Nicholas Epley. Diesen ersten Schritt zu wagen, kann für viele dennoch eine Heraus- forderung darstellen. Genau dort setzt nun das Pilot- projekt „Social Prescribing EU“ an. Seit Januar 2025 können Ärzt:innen bei Einsamkeit soziale Aktivitäten, wie den Besuch bei einer Bera- tungsstelle, Selbsthilfegruppe oder einem Nachbar- schaftstreff, verschreiben – ein Prinzip, das in Groß- britannien bereits seit Jahren erfolgreich funktioniert. Und wer weiß, vielleicht finden sich ja genau dort auch neue wichtige Bezugspersonen. . „Oh, you’re my best friend!“ Doch was sind überhaupt tiefe oder „gute“ Freund- schaften? Ist eine „gute“ Freundschaft daran definiert, wie oft man sich sieht, oder daran, wie lange man sich schon kennt? Oder hat all das gar nichts damit zu tun? Für mich ist die Antwort klar. Die Anzahl an mindes- tens zehn minütigen Sprachnachrichten, die meine Freund:innen so monatlich erhalten, könnte bestimmt schon zu einer Blockbuster-Länge zusammengefasst werden. Und obwohl teilweise Wochen vergehen kön- nen, in denen sich keine:r so richtig meldet, irgend- wann gibt es immer eine ehrliche, wenn nicht sogar ausführlichere Antwort zurück. Denn egal ob ich meine Freund:innen viel sehe oder nicht – das Interesse und die Liebe füreinander sind immer gleichbleibend. Good News Magazin 41
„I know what it is to feel like you’ve always got a lighthouse – lighthouses – to guide you back to dry land“. „Ich weiß, wie es sich anfühlt, immer einen Leucht- turm zu haben – mehrer Leuchttürme – die mich zurück zum sicheren Land führen“ Die Leise Form der Liebe Natürlich ist Freundschaft nicht immer positiv. Wird die Beziehung und das dahinter steckende Vertrauen ausgenutzt, muss man genau wie in einer Partnerschaft bereit sein, eine Grenze zu ziehen. Umgekehrt müssen wir an unseren Freundschaften auch manchmal arbei- ten, genau wie an allen anderen Beziehungen auch. Doch es lohnt sich für die vielen Momente der Liebe, die in unseren Freundschaften stecken. Sie existiert in unserem Lieblingslied, im „Gut Zuhause angekommen?“, im Lachen über Witze, die nur unsere Freunde verstehen können, aber auch in den einfachs- ten Gesprächen abends am Küchentisch. Ob roman- tisch, platonisch, irgendwas dazwischen oder darüber hinaus: Haben wir ein soziales Netz, das uns liebt und auffängt, dann stehen wir schon ziemlich gut da. m o c . s o t o h p t i s o p e d - m m o T 1 : d l i B Das bestätigen auch Umfragen beispielsweise vom Heidelberger SINUS-Institut. Am wichtigsten sind uns Deutschen in Freundschaften demzufolge Ehrlichkeit, offene Kommunikation und vor allem Verlässlichkeit. Zentral für eine tiefe Freundschaft ist also, dass man füreinander da ist – egal in welcher Form. Manchmal ist es im gemeinsamen Beschweren über einen zu stressigen Alltag, manchmal im einseitigen Zuhören und nicken, wenn die andere Person eine schwere Zeit hat. Manchmal im mit Anpacken beim Umzug, mal im spontanen Vor-der-Tür-Stehen oder in der Textnach- richt, die fragt, ob alles in Ordnung ist. Denn: Freundschaft bedeutet nicht nur selbst ausge- suchte und ehrliche Liebe, sondern vor allem Hilfe und Unterstützung in harten Zeiten. Dabei ist sie laut neu- eren psychologischen Forschungen kein System eines ausgeglichenen Geben und Nehmens, sondern basiert auf Großzügigkeit und Verantwortung füreinander. Die dahinter steckende Verlässlichkeit wird nicht als Luxusgut, sondern als Selbstverständlichkeit angese- hen. Ein „Zurückzahlen" wird gar nicht erst erwartet, weil klar ist: Im Notfall ist man füreinander da. Wer dabei wie oft für wen da ist, ist egal. Leuchtturm in der Not Beispiele für solche Beziehungen finden die For- scher:innen überall auf der Welt. In einer Studie in ländlichen Regionen der südlichen USA zeigte sich, dass Farmer:innen benachbarter Farmen keine Gegen- leistung erwarteten, wenn sie ihren Nachbar:innen in unvorhergesehenen Notlagen wie Krankheitsfällen oder Unfällen beistanden. Bei den Maasai, einer indigenen Gruppe in Kenia und Tanzania, gibt es für diese Art der Beziehung sogar einen eigenen Namen. Sogenannte Osotua-Beziehun- gen gelten über Generationen hinweg und basieren auf genau diesem Prinzip: Hilfe einfordern und erhalten, wenn sie wirklich gebraucht wird – und das ohne jegli- che Erwartungen von Rückzahlung. Dabei geht es nicht um kleine Alltagsprobleme, sondern um Unterstützung in wirklich harten Zeiten. Das fordert nicht nur die Großzügigkeit beider Parteien, sondern auch ein voll- kommenes Verantwortungsbewusstsein füreinander. Darum ist es auch egal, ob meine Freundin oder ich das letzte Mal geschrieben hat und wie lange die letzte Antwort her ist. Wenn ich sie total fertig anrufe, ist sie für mich da. Freundschaften bilden das Netz, das uns auffängt, wenn alles auseinanderbricht. Oder wie Autorin Dolly Alderton es in ihrem bekann- ten Buch „Everything I know about love“ beschreibt: 42 Good News Magazin
m o c . s o t o h p t i s o p e d - n a m d e V m a F l : d l i B Wunsch-Großeltern im Dienst Ein Gewinn für alle Generationen Seit dreißig Jahren schafft der Verein SEFA Leipzig Begegnungen zwischen Jung und Alt. Sein Herzstück ist der Großelterndienst – ein Projekt, das Kinder mit ehrenamtlichen Wunsch-Omas und -Opas zusammenbringt. Pressespre- cher Arik Platzek erzählt, wie aus Fremden Familie wird. Selina Schöberl „Familie ist da, wo es eine von Wertschätzung geprägte Verbundenheit gibt, die auf Dauer angelegt ist und wo fürsorgliche, liebevolle Beziehungen gepflegt werden“, sagt Arik Platzek, als ich ihn frage, was familiäre Bin- dung ausmacht. Mit genetischer Herkunft habe das nur bedingt zu tun. Was familiäre Beziehungen für ihn von anderen zwischenmenschlichen Beziehungen unterscheidet, die ja ebenfalls von Verbundenheit ge- tragen werden, ist der Aspekt der Fürsorge – insbeson- dere, dass eine ältere Person die Verantwortung für eine jüngere Person übernimmt. Über seine eigene Kindheit erzählt Arik Platzek: „Ich komme selbst aus einer relativ großen Familie. Wir ha- ben in der Kindheit viel aufeinander gehockt. Es war ein gutes familiäres Zusammensein und dadurch bin ich ein Familienmensch geworden. Ich will ein Stück weit dabei helfen, dass andere sowas auch miterleben können. Auch wenn es sich aus ihrer eigenen familiä- ren Konstellation nicht ergibt.“ Genau das ist es, was Arik Platzek seit zwei Jahren als Pressesprecher von SEFA macht. Seit 1995 bringt der gemeinnützige Verein in Leipzig alte und junge Men- schen zusammen. Ob Besuchsdienste bei älteren Men- schen oder gemeinsame kulturelle Aktivitäten, hier wird Fürsorge generationenübergreifend gelebt und Nächstenliebe ganz selbstverständlich zum Alltag. Das gilt besonders für den Großelterndienst. Das Pro- jekt vermittelt ältere Menschen, die Lust haben, regel- mäßig Zeit mit Kindern zu verbringen, mit jungen Fa- milien, die sich ein Großelternteil wünschen. Gemein- sam können Wunsch-Großeltern und Kinder dann Lesen, Basteln, Spazieren gehen oder einfach einander zuhören. Dabei geht es nicht um professionelle Be- treuung, sondern um Beziehung. Eine Beziehung, die alle Beteiligten erfüllt und bereichert. Familie im Wandel Nicht immer können leibliche Großeltern eine enge Beziehung zu ihren Enkelkindern führen. Die Gründe dafür, weiß Arik Platzek, sind vielfältig: Familienstrei- tigkeiten, Krankheiten oder andere Lebenssituationen, die regelmäßigen Kontakt erschweren. Good News Magazin 43
Hinzu kommen gesellschaftliche Veränderungen. Eine Studienreihe der Europäischen Union zu Fami- lienstrukturen zeigt, dass die fortschreitende Urbani- sierung eine zentrale Rolle spielt: Immer mehr Men- schen ziehen in Städte, wechseln häufiger den Wohn- ort, und so vergrößern sich die räumlichen Distanzen zwischen den Generationen. Das kann es erschweren, stabile Beziehungen zwischen Kindern und Groß- eltern wachsen zu lassen. Auch der demografische Wandel, eine der größten Her- ausforderungen (nicht nur) der deutschen Gesellschaft, beeinflusst familiäre Nähe. Der Alterungsprozess der Bevölkerung könnte einerseits die Solidarität zwischen den Generationen fördern, etwa durch die größere Ver- fügbarkeit von Großeltern. Andererseits könnten auch Konflikte zwischen den Generationen begünstigt wer- den, etwa durch den finanziellen Druck auf die Sozial- systeme oder Herausforderungen bei der medizini- schen Versorgung. All das kann es erschweren, enge Beziehungen zwischen den Generationen entstehen zu lassen. Genau hier setzt der Großelterndienst an. Wie aus Fremden Familie wird Um an dem Projekt teilzunehmen, melden sich junge Familien und ältere Menschen ab 50 bei SEFA Leipzig. Dort wird dann eine Auswahl getroffen und das per- fekte Match gebildet. Dabei spielen individuelle Wün- sche, Interessen und geografische Nähe eine Rolle. In den Räumen der SEFA können sich die Familien und die potentiellen Wunsch-Großeltern das erste Mal kennenlernen. Darauf folgt eine Probezeit von sechs Wochen. Wenn die Chemie stimmt, wird aus dem ers- ten Kennenlernen eine Beziehung mit Dauer. Wie lange und zu welchen Bedingungen genau, entschei- den die Familien und Wunsch-Großeltern selbst. Mo- mentan gibt es fünfzig dieser Enkelkind-Großeltern- Paare in Leipzig. 44 Good News Magazin Ein Gewinn für alle Für die Kinder bedeutet eine Wunsch-Oma oder ein Wunsch-Opa oft eine wertvolle Ergänzung im Leben, weiß Arik Platzek. „Die Kinder haben eine Bezugsper- son, die mit einem Motiv der Fürsorge und einem Er- fahrungsschatz kommt, den die Eltern so vielleicht nicht haben. Mit Ideen, Perspektiven, mit Fähigkeiten. Wenn da eine ältere Person kommt, die sich gerne re- gelmäßig zwei oder drei Stunden hinsetzt und bastelt, dann ist das eine tolle Sache für manche Kinder. Und das ist halt auch eine Sache, die Gleichaltrige nicht un- bedingt bieten können.“ Diese zusätzliche Bezugsperson schafft Nähe jenseits des Alltagsstresses, der viele Familien prägt. Sie bringt Ruhe, Geduld und das Gefühl, dass sich jemand wirk- lich Zeit nimmt – ein Luxus in einer schnellen Welt. Für die Eltern wiederum ist der Großelterndienst eine Ent- lastung, aber eben keine pragmatische Betreuungslö- sung. „Die Eltern haben eine zeitliche Entlastung und wissen, ihr Kind ist gut aufgehoben. Das Kind ist nicht ‘abgestellt’, sondern bei einer Person, die Kapazitäten, Lust und besondere Fähigkeiten mitbringt.“, erklärt Arik Platzek. Das könne besonders für alleinerziehende Elternteile eine große Unterstützung sein. Auch der Austausch zwischen Eltern und Wunsch-Großeltern ist gefragt – immerhin haben viele Wunsch-Großeltern früher selbst Kinder großgezogen und können sich gut in die Lage der Eltern hineinversetzen. m o c . s o t o h p t i l s o p e d - a i t e a - a y n a t _ o k n i l o k : r e d l i B
m o c . s o t o h p t i s o p e d - o s y L a n a Y : k fi a r G m o c . s o t o h p t i s o p e d - 3 1 r n a d : d l i B Sinn, Nähe, Verantwortung Und natürlich ist das Engagement auch für die Wunsch-Großeltern selbst eine Bereicherung. Viele erzählen, wie sehr sie das Zusammensein mit Kindern erfüllt, berichtet Arik Platzek. Die jungen Familien bie- ten Nähe, Abwechslung und vermitteln den älteren Menschen: Ihr werdet gebraucht. Das ist eine Botschaft, die gut tut. Vor allem gegen das Gefühl der Einsamkeit, das viele ältere Menschen ken- nen. Eine Studie des Robert Koch-Instituts aus De- zember 2024 zeigt, dass sich etwa 19 Prozent der über 65-Jährigen in Deutschland einsam fühlen. Von dem Großelterndienst der SEFA profitieren also alle Generationen ganz individuell. Oft halten diese Beziehungen viele Jahre, erzählt Arik Platzek: „Viele Großelterndienste laufen so ein bis fünf Jahre. Es gibt aber auch einige, wo es tatsächlich über zehn Jahre hi- naus weiterlief. Dann natürlich nicht mehr auf Betreu- ungsbasis, sondern einfach dadurch, dass die Wunsch- Großeltern wie ein echter Teil der Familie sind.“ Man- che Wunsch-Großeltern werden später zur Jugend- weihe oder zum Abitur eingeladen, erzählt Arik Platzek. Und manchmal seien es die ehemals betreuten Kinder oder deren Eltern, die später den Senior:innen helfen würden, sobald diese Unterstützung benötigten.. Nächstenliebe an der Angel Bis solche Verbindungen entstehen, braucht es Geduld – und Menschen, die sich öffnen wollen. Die Nach- frage nach Senior:innen, die sich als Wunsch-Groß- eltern engagieren, ist hoch. Die Suche nach ihnen be- schreibt Arik Platzek so: „Man muss sozusagen die Angel auswerfen. Und mit ein bisschen Glück gibt es in so einer großen Stadt wie Leipzig immer noch regel- mäßig Leute, die sagen: ‘Das passt für mich.’“ Vertrauen wächst nicht von heute auf morgen, aber wenn es entsteht, dann nachhaltig. Vielleicht ist ge- nau das der schönste Aspekt am Großelterndienst. Liebe ist hier nicht spektakulär, sondern leise, be- ständig, verbindend. Sie zeigt sich in einem gemein- sam gebackenen Kuchen, einem Spaziergang, einer vorgelesenen Geschichte. Good News Magazin 45
Wie Fernbeziehungen heute gelingen m o c . s o t o h p t i s o p e d - a d a E l : n e n o i t a r t s u l l I Weit weg und trotzdem ganz nah Fernbeziehungen gelten oft als Bewährungsprobe, doch wer auf Distanz liebt, kann vieles über Kommunikation und Nähe lernen. Warum Fernbe- ziehungen mehr über Liebe verraten, als ihr Ruf vermuten lässt. Ein Erfahrungsbericht über Nähe trotz Entfernung. Luca Kramarz Köln und Berlin – zwei Städte, zwei Leben, aber eine Beziehung. Was für manche nach einem logistischen Albtraum klingt, ist für mich längst Alltag geworden. Dies kann vor allem die Ticket-Historie in meiner Bahn-App bezeugen. Unsere Beziehung rollt gewis- sermaßen auf den Schienen des ICE - jedes Treffen beginnt mit seiner Ankunft und endet mit einer letz- ten Umarmung am Bahnsteig. Obwohl wir mehr als 600 Kilometer überwinden müs- sen, fühlt sich unsere Beziehung häufig vertrauter an als manche, die Tür an Tür stattfindet. Wie kann das sein? Viele glauben, dass Fernbeziehungen ihrer Natur nach zum Scheitern verurteilt sind – zu viel Sehnsucht, zu wenig Nähe und daraus folgen mehr Probleme. In diesem Arti- kel würde ich gerne die positiven Sei- ten einer Fernbeziehung beleuchten. Neben meinen Erfahrungen suche ich zudem nach möglichen Antworten in der Wissenschaft. Und wer sollte das besser können, als ein Mensch, der selbst in der Situation steckt? 46 Good News Magazin
Was versteht man unter einer Fernbeziehung? Grundsätzlich gibt es keine wissenschaftliche Defini- tion einer Fernbeziehung. Was fern für jemanden ist, hängt auch stark von der eigenen Einschätzung ab. Für Fernbeziehungen über verschiedene Kontinente hin- weg könnte die Distanz meiner Beziehung fast schon mickrig klingen. Allerdings kann man sich wohl darauf einigen, dass Fernbeziehungen eine Beziehung be- zeichnen, in der die Beteiligten über längere Zeit an unterschiedlichen Orten leben und sich deshalb nur selten persönlich sehen können. Keine regelmäßigen Dates unter der Woche, kein spontanes Vorbeischauen und selten ein gemeinsamer Freundeskreis. Dement- sprechend findet insbesondere der Alltag beider Per- sonen getrennt statt und die Kommunikation läuft meist über Telefonate, Videoanrufe oder WhatsApp. Durch Letzteres habe ich wenigstens immer die besten Ausreden für eine hohe Bildschirmzeit. Liebe in Zahlen - Fernbeziehungen werden immer mehr Fernbeziehungen sind längst keine Seltenheit mehr. Im Gegenteil: Sie gehören zunehmend zum ganz nor- malen Liebesalltag. Das Deutsche Institut für Wirt- schaftsforschung in Berlin zeigt: Heute führt etwa je- des siebte bis achte Paar in Deutschland eine Bezie- hung über Distanz. Auch andere Studien bestätigen diesen Trend. Laut einer Untersuchung der Online- Partnervermittlung Parship lebt inzwischen mehr als jedes zehnte deutsche Paar ohne gemeinsamen Wohn- ort – das entspricht rund 4,4 Millionen Menschen. Und wenn man meiner inoffiziellen Studie trauen darf, sind erstaunlich viele ebenfalls zwischen Köln und Berlin unterwegs. Noch vor drei Stunden stand ich in Köln-Deutz am Bahnsteig und habe sicher zehn pas- sende Beispiele beobachten können. Wenn der Job die Distanz schafft Fernbeziehungen können auf verschiedenste Weise entstehen. In meinem Umfeld sind sie oft aus einem Semester im Ausland entstanden. Häufig kann auch ein Studienortwechsel der Auslöser sein, falls das Mas- terprogramm an einer anderen Universität einfach deutlich besser zu einem passt oder man doch noch- mal in eine andere Stadt möchte. Gerade der Berufs- einstieg scheint aber ein bedeutender Grund für viele Fernbeziehungen zu sein. Laut dem Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung finden viele Berufsan- fänger keinen Platz in derselben Region, in der sie studiert haben. Ganz genau in dieser Si- tuation haben wir uns auch wiedergefunden. Während ich noch auf dem Langstreckenlauf na- mens Jura-Studium unterwegs bin, konnte meine Freundin ihren Master bereits letztes Jahr beenden. Sie hat Bewerbungen in alle möglichen Himmelsrichtun- gen geschickt – gelandet ist sie schließlich in Berlin. So sehr ich mich zumindest zeitweise mit Berlin anfreun- den kann, habe ich mich doch für unbestimmte Zeit der schönsten Stadt am Rhein verschrieben. Laut einer von Parship organisierten Umfrage gab eine überwie- gende Anzahl der Paare den Beruf als ausschlaggeben- den Grund für ihre Distanz an – ganze 61 Prozent. Wir sind damit also nicht alleine. Auch ein gewisses Kon- fliktpotenzial scheint sich innerhalb der Gründe für die Fernbeziehungen zu befinden: Bei jeweils 11 % der Be- fragten wollen weder sie selbst noch ihre Partner den eigenen Wohnort aufgeben. Das macht ein zukünfti- ges Zuhause gemeinsam zusätzlich schwieriger. Was verändert sich durch das Leben in einer Fernbeziehung? Aus eigener Erfahrung kann ich jedoch sagen, dass man schnell ein zweites Zuhause für sich entdeckt. Durch meine regelmäßigen Besuche in Berlin finde ich mich mittlerweile in manchen Ecken schon ganz ohne Google Maps zurecht. Weil die Wohnungssuche in Berlin bekanntlich etwas komplizierter ist, konnte ich innerhalb von einem Jahr auch schon drei verschie- dene Kieze kennenlernen. Die langen Fahrten im ICE haben außerdem etwas Gutes: Meine Liste an gelese- nen Büchern und Podcasts ist in dieser Zeit regelrecht explodiert. Aber wie funktioniert die Romantik? Das Grundgerüst einer funktionierenden Fernbezie- hung ist die offene Kommunikation. Da Gestik, Mimik und Tonfall im Chatverlauf häufig fehlen, müssen Paare beispielsweise bewusster und achtsamer miteinander sprechen. Einzelne Wörter können im schlimmsten Fall ein Missverständnis auslösen, das im per- sönlichen Gespräch gar nicht erst ent- standen wäre. Zugleich ist es wichtig, Bedürfnisse und Erwartungen bezüglich dieser besonderen Situation ausgiebig dem Gegenüber zu erläutern. Auch Studien, wie die des Journal of Communication, deuten darauf hin, dass Paare in Fernbeziehungen häufig intensiver miteinan- der sprechen und dadurch eine besonders starke emo- tionale Verbundenheit entwickeln. Zwar ist die Kom- munikation häufig quantitativ weniger als die von zusammenlebenden Paaren, aber dafür steckt Good News Magazin 47
in den Gesprächen der entfernten Paare mehr Tiefe und Selbstoffenbarung. Das deckt sich mit meinen persönlichen Erfahrungen. Wenn wir uns sehen, nutzen wir die Zeit oft dafür, uns ein kleines Gefühls-Update der vergangenen Wochen zu geben. Auch die Zukunft beschäftigt uns häufiger, da wir uns natürlich wünschen, so schnell wie möglich am selben Ort anzukommen und das logischerweise einer gewissen Lebensplanung entsprechen muss. Wenn man die Beziehung wirklich ernst nimmt, muss man sich da- her früh mit tiefergehenden Fragen beschäftigen: Was brauche ich, um mich trotz der Entfernung emotional verbunden zu fühlen? Was macht mir an einer Fernbe- ziehung am meisten Angst? Wie offen können wir über Eifersucht oder Unsicherheiten sprechen? Schnell wird einem bewusst, dass „normale“ Beziehun- gen meist nicht so schnell das Maß an Vertrauen ent- wickeln, welches eine Fernbeziehung von Anfang an erfordert. Es wird zeitig notwendig, dass man Ver- trauen schenkt und Kontrolle abgibt. Diese Haltung bietet die Grundlage für eine tiefe und stabile Verbun- denheit. An dieser Stelle könnten räumlich nähere Be- ziehungen zum Beispiel etwas lernen. Fernbeziehun- gen können wichtige Beziehungsgrundsteine, wie Kommunikation oder Unterstützung, also nicht ge- fährden, sondern, ganz im Gegenteil, zentrale Be- ziehungsfähigkeiten fördern. Sie schulen den gesunden Umgang mit Emotionen, verstärken die Empathie und stärken das Vertrauen ineinander. Zumindest ich kann mit gutem Gewissen behaupten, dass ich solch eine tiefe Verbindung nie zuvor aufbauen konnte. Und das, obwohl wir uns vor unserer Fernbeziehung kaum zwei Monate in Köln kannten. Vielleicht hat es auch damit zu tun, dass wir uns entschieden haben, dieser Beziehungsform eine Chance zu geben, ohne uns von zu großen Ängsten lei- ten zu lassen. Uns war nämlich immer klar, dass wir es zumindest versuchen wollten. Ein bisschen Zeit für sich Aber wie sieht das Leben nach einem schweren Sonn- tagabendabschied aus? Natürlich wäre es am schöns- ten, auch die kommenden Tage nebeneinander aufzu- wachen, aber die Realität verweigert das leider. So sehr die Distanz auch schmerzen kann, sie schafft in diesen Momenten Freiraum. Zeit, um Freundschaften zu pfle- gen, Neues auszuprobieren, sich selbst besser kennen- zulernen – Dinge, die im Alltag zu Zweit manchmal zu kurz kommen. Die Gefahr, das eigene soziale Umfeld aufgrund der Beziehung zu vernachlässigen, kommt erst gar nicht auf. Man hat Zeit für beides. Und es sollte bekannt genug sein, dass gute Freundschaften ebenso wichtig sind, wie eine gesunde Beziehung. In der Zeit zwischen den langen Wochenenden kann man ohne schlechtes Gewissen seinen Interessen nachgehen. In meinem Fall führt das zum Beispiel dazu, dass ich gerne mal das Fußballstadion mit dem heimischen Wohnzimmer austausche. z r a m a r K a c u L : r e d l i B 48
Laut der belgischen Beziehungsexpertin Esther Perel ist eine Beziehung auf lange Sicht glücklicher, wenn man dem Partner oder der Partnerin Freiraum lässt und zugleich ein eigenständiges Leben mit eigenen Interes- sen, Erfahrungen und Freundschaften führt. Zwar gilt das auch für Beziehungen ohne räumliche Distanz, doch in einer Fernbeziehung wird man fast automa- tisch dazu angehalten – und genau das kann es manch- mal leichter machen. Gerade weil wir im Alltag getrennt sind, sind wir in unseren gemeinsamen Momenten umso präsenter. Die Zeit, die wir haben, schöpfen wir bewusst aus - ohne Ablenkung und ohne halbe Auf- merksamkeit. Ich muss zugeben, dass mich diese kurze Zeit auch häufig unter eine Art Performance-Druck setzt. Aber es wäre ja auch komisch, wenn alles immer mühelos wäre. Ich sehe es mehr als eine Chance gene- rell entspannter zu werden. Mithin haben wir einen weiteren Punkt, von dem andere Paare lernen könnten. Geschichten von gestern und morgen Ein letzter Vorteil ist schlicht, dass es bei uns selten langweilig wird. Jedes Wiedersehen fühlt sich ein biss- chen nach Urlaub an und gerade in meiner aktuellen Lebensphase bin ich sehr dankbar dafür, so viele unter- schiedliche Orte sehen zu dürfen. Da unser gemeinsa- mer Alltag ohnehin nicht festgefahren ist, lassen wir uns auch viel leichter darauf ein, zwischen- durch andere Städte als Treffpunkt auszupro- bieren. Wie wär’s mit Tirana an Silvester? Sollen wir uns mal stattdessen für ein paar Tage am Meer treffen? Oder machen wir es uns einfach in Köln ge- mütlich? Jedes Mal ist es auf eine andere Art besonders und wir haben schon jetzt genügend Geschichten zu erzählen. Und vielleicht passt das auch gerade einfach gut zu mir – zu meinem Bedürfnis nach Bewegung, kleinen Abenteuern und dem Gefühl, unterwegs zu sein. Ferner reißen mich unsere Treffen jedes Mal ein Stück aus dem Alltag raus und manchmal ist es genau das, was mir gefehlt hat, um wieder klarer zu sehen. Ein kleines Fazit Wenn ich die Studien mit meinen eigenen Erfahrun- gen vergleiche, wird für mich klar, dass eine Fernbezie- hung genauso nah, warm und erfüllend sein kann wie jede andere Beziehung auch. Solange wir offen und ehrlich miteinander sprechen, findet unsere Nähe ihren Weg durch jede Distanz. Denn jedes Mal treffen wir uns nicht als Menschen, die nebeneinander her le- ben, sondern als Menschen, die sich wirklich sehen wollen. Und wenn das gelingt, steht einer glücklichen Liebe auf Abstand wirklich nichts im Weg. Danke, dass wir diesen Weg gemeinsam gehen, Sara. m o c . s o t o h p t i s o p e d - a d a E l : n e n o i t a r t s u l l I XOXO Luca Good News Magazin 49
Eine Reise zu Festen der Liebe weltweit Wenn ein Faden mehr sagt als tausend Worte Weihnachten: Das einzig wahre Fest der Liebe! Oder? Dieser Artikel führt uns auf eine Reise durch einige der schönsten Liebes-Feierlich- keiten dieser Welt und zeigt, dass Liebe auf ganz unter- schiedliche Weise ausge- drückt werden kann. Antonia Scheurer m o c . s o t o h p t i s o p e d - d p a i : d l i B Ein Mädchen bindet einen feinen Faden, dekoriert mit Steinchen und Ornamenten, um das Handgelenk ihres Bruders. Er gibt ihr ein Geschenk und das Verspre- chen, sie zu beschützen. An Raksha Bandhan, kurz Rakhi, feiern Hindus die Verbindung von Geschwis- tern. Mit dem Knoten am Handgelenk wird ein „schüt- zendes Band“ geknüpft, und das Versprechen gegeben, immer füreinander da zu sein. Raksha bedeutet „Schutz“ – historisch soll der Bruder seine Schwester(n) beschützen. Im traditionellen Rakhi-Ritual spiegeln sich damit patriarchale Struktu- ren. Doch wie bei vielen alten Traditionen, bringen neue Generationen auch neue Rituale. Inzwischen wird das Rakhi auch als Band zwischen Geschwistern unabhängig von Gender gebunden. Viele junge Men- schen zeigen so auch ihre Liebe zu guten Freund:innen oder sogar Arbeitskolleg:innen. Damit wird Rakhi zu einem Fest der geschwisterlichen Liebe, unabhängig von Geschlecht und gesellschaftlicher Rolle. Rakhi ist nur eines von vielen Festen weltweit, die Liebe in ihren unterschiedlichsten Formen feiern. 50 Good News Magazin
Die Geschichte von zwei Sternen Wenn wir verliebt sind, funktioniert unser Hirn anders: die starke Dopaminausschüttung versetzt uns in einen Zustand, der einem Drogenrausch ähnelt. Kein Wun- der, dass Menschen auf der ganzen Welt die Liebe ze- lebrieren. An Weihnachten feiern Christ:innen die Ge- burt Jesu und sein Gebot der Nächstenliebe, vor allem aber steht das Fest heute fürw viele von uns für ge- meinsame Zeit mit der Familie. Die Liebe zu Part- ner:innen wird an Valentinstag mit Herzchen, Rosen oder Schokolade ausgedrückt. Es gibt Muttertag, Va- tertag, Kindertag oder den „Galentine´s Day“, der am 13. Februar als Gegenstück zum Valentinstag die Freundschaft unter Frauen zelebriert. Auch wenn viele dieser Fest gerade in der westlichen Welt inzwischen stark kommerzialisiert sind, tragen sie für die Menschen, die sie feiern, eine tiefe, grund- legende Bedeutung: Sie sind ein Anlass, die Liebe zu zeigen, die im Alltag zwar immer da ist, aber nicht immer Raum bekommt. Nicht ohne Grund bestehen solche Feste darum seit Jahrhunderten in allen Ge- sellschaften – und in verschiedensten Formen: In Ja- pan hängen Verliebte beim Tanabata-Fest ihre Wün- sche an Bambuszweige. Nach einer alten Erzählung wurden die Himmels-We- berin Orihime und ihr Geliebter Hikoboshi vom Him- melskaiser getrennt. Die beiden durften sich nur ein- mal im Jahr sehen – in der siebten Nacht des siebten Neumondes, an dem noch heute das Sternenfest Tana- bata gefeiert wird. Die romantische Bedeutung des Festes zieht Paare an. Mit seinen bunten Dekoratio- nen, Feuerwerken und Umzügen ist das Fest auch ein Highlight für Besucher:innen aus aller Welt – ob ver- liebt oder nicht. Nach japanischer Tradition gehen die Wünsche, die man an Tanabata an einen Bambuszweig hängt, in Erfüllung. Viele dieser Wunschzettel betref- fen am Fest der beiden getrennten Sterne wohl aber doch das schönste Gefühl der Welt: die Liebe. 0 . 2 A S - Y B C C i - o k m u K : d l i B Wünsche an Bambuszweigen Good News Magazin 51
Der Kampf für eine gemeinsame Kultur Das afro-amerikanische Fest Kwanzaa erzählt eine et- was andere Geschichte. Denn dabei feiern die Men- schen nicht die Liebe zur Partnerperson oder ihrer Familie, vielmehr zelebriert Kwanzaa eine gemein- schaftliche Form der Liebe. Dr. Maulana Karenga star- tete 1966 mit dem Fest eine Tradition, die noch heute vor allem in den USA eine Geschichte der Selbstbe- stimmung und des Zusammenhalts erzählt. Den Name entlehnte Karenga aus dem Swahili. „Kwanza“ bedeutet „das erste“ und bezieht sich in dem Kontext auf die Ernte, da das afro-amerikanische Kwanzaa-Fest aus einer Tradition afrikanischer Ernte- dankfeste heraus entstanden ist. Gefeiert wurden die ersten Früchte („matunda ya kwanza“), daraus ent- stand die heutige Bezeichnung. Versklavten Men- schen war das Zelebrieren der Feste ihrer jeweiligen Kulturen verboten, darum, so argumentierte Karenga, fehlte der afro-amerikanischen Bevölkerung zur Zeit der Entstehung des Festes eine gemeinsame kulturelle Identität. Mit Kwanzaa wollte er eine Basis für eine vereinende Kultur unabhängig von politischen oder religiösen Ansichten schaffen. Heute bringt Kwanzaa zwischen dem 26. Dezember und dem 1. Januar über sieben Tage hinweg Familien in den USA und darüber hinaus zusammen und ver- bindet Menschen miteinander und mit der Natur. Es geht aus einer Geschichte der Unterdrückung hervor und bringt Hoffnung auf Zusammenhalt und eine kol- lektive Form der Liebe. Wasser der Liebe Auch in Armenien wird sie gefeiert, wenn auch in an- derer Form. Beim Vardavar-Fest, das 98 Tage nach Os- tern gefeiert wird, füllen sich Straßen und Plätze mit fröhlichem Lachen und ganz viel Wasser. Ursprünglich war das Fest der Göttin Astghik gewidmet, die Schön- heit, Fruchtbarkeit und Liebe verkörpert. Die Men- schen schenkten ihr Rosen als Zeichen der Verehrung. Auch Wasser spielte schon damals als lebenserhalten- des Element eine zentrale Rolle: Mit dem gegenseiti- gen Bespritzen mit Wasser dankten die Menschen der Göttin für die Natur und ihre Schätze. Mit der Christianisierung Armeniens erhielt das Fest eine neue Bedeutung und wurde zum Fest der Verklä- rung Christi. Doch der Kern des Festes, die Freude an der Liebe und am Leben, blieb erhalten. Bis heute zie- hen sowohl Kinder als auch Erwachsene mit Eimern und Schläuchen durch die Straßen – eine riesige Was- serschlacht, die Menschen zusammenbringt. Die Ritu- ale dieses ausgelassenen Sommerfests erinnern immer wieder an seine Tradition und Bedeutung: Vardavar ist ein Fest der Reinigung und Fruchtbarkeit der Felder, aber auch ein Fest der Liebe und Hoffnung. 0 . 4 A S - Y B C C - y z z z z z y Z : d l i B m o c . s o t o h p t i s o p e d - s r e y M r e h p o t s i r h C : d l i B 0 . 3 A S Y B C C - - 1 0 0 н я л а м а К 52 Good News Magazin : d l i B
Liebe überdauert Verbundenheit, das ist es, was Kwanzaa symbolisiert und was für viele von uns grundlegend für Liebe steht. Diese Verbundenheit mit anderen Menschen, mit Tie- ren, Orten oder Leidenschaften, kann uns über einen bestimmten Zeitraum begleiten, ein Leben lang – oder darüber hinaus. In Mexiko erinnert der Día de los Mu- ertos jedes Jahr Anfang November daran, dass Liebe den Tod überdauert. Schon Ende Oktober werden die Straßen und Häuser mit Totenköpfen und bunten Blumen dekoriert. Mit Körben voller Pan de Muerto, einem süßen Brot, und bunten Zuckerschädeln ziehen die Familien dann zu den Friedhöfen. Auf den Gräbern stehen Altäre mit Fotos und Lieblingsspeisen der Verstorbenen und leuchtend orangen Blumen, deren Duft die Geister nach Hause führen soll. Aber der Día de los Muertos ist kein Trauertag: Die Menschen tanzen zu Musik und feiern, dass sie an diesen Tagen wieder mit den Ver- storbenen vereint sind. Auch in anderen Teilen der Welt gibt es Feste, die ge- liebten Verstorbenen gedenken, vom Obon-Fest in Ja- pan, wo Laternen für die Verstorbenen entzündet wer- den, zu den Gai Jatra - Umzügen in Nepal. In Mexikos Nachbarland Guatemala findet fast zeitgleich zum Dia de los Muertos das Festival de Barriletes Gigantes statt. Beim „Festival der Riesendrachen“ lassen Men- schen jedes Jahr Anfang November teils über 20 Meter große, bunt bemalte Drachen in die Lüfte steigen. Ei- nigen Quellen zufolge war das Fliegen von Drachen bereits zu Zeiten der Maya Tradition, für die die Dra- chen ein Mittel der Kommunikation mit verstorbenen Angehörigen gewesen seien. Heute sind die Drachen noch immer ein Symbol der Erinnerung an geliebte Menschen. Neben Nachrichten an die Verstorbenen werden die Drachen von den Familien jedoch auch mit Wünschen für Frieden und Hoffnung beschriftet. So unterschiedlich diese Feste wirken, sie erzählen alle von demselben Bedürfnis: Liebe nicht nur zu empfin- den, sondern mit anderen zu teilen. Und wenn das Rakhi-Band sich langsam auflöst, die Valentinsschoko- lade schon längst aufgegessen ist und die Tanabata- Wünsche in Vergessenheit geraten sind, bleibt die Er- innerung an gemeinsam gefeierte Feste der Liebe. m o c . l l h s a p s n u - s e a r o M n a A l : d l i B Good News Magazin 53
In Our Families m o c . s o t o h p t i s o p e d - k m m o t ; E R O T S X P R G : d l i B Ein liebevoller Blick auf Familie in all ihren Formen Die Fotoausstellung „In Our Families“ zeigt Familien unterschiedlichster Konstellationen, von Patchwork zu gleichgeschlechtlichen Partner:innenschaften, Alleinerziehenden und Mehrgenerationenhaushalten. Dabei wird schnell deutlich: Die Unterschiede sind zweitrangig, denn was bleibt, sind echte Geschichten über bemerkenswerte, liebevol- le Menschen. Luisa Vogt 54 Good News Magazin
Wir lieben sie, wenn sie uns nicht gerade in den Wahn- sinn treibt. Aber vielleicht auch dann – oder gerade dann: Die Familie. Ob es überhaupt eine Familie gibt, die sich als „normal“ bezeichnen würde? Zumindest von außen werden manche Familienkons- tellationen als „normaler“ anerkannt als andere, oder besser gesagt: Sie entsprechen mehr dem gängigen europäischen Verständnis von Familie. In Deutsch- land, beispielsweise: Vater, Mutter, zwei Kinder, im Zweifel ohne sichtbare Migrationsgeschichte, von außen also als „ganz deutsch“ gelesen. So wie meine Familie – und ich finde sie toll. Aber natürlich gab es schon immer auch viele weitere, bunte und vielfältige Formen von Familie. Tatsächlich ist die Kernfamilie, wie wir sie heute im westlichen Raum als gegeben ansehen, historisch gesehen eine sehr junge Konstellation. Daneben gibt es noch viele weitere, von sogenannten Patchworkfamilien zu quee- ren Eltern, Adoptivfamilien und Wahlfamilien. Sie alle unterscheiden sich von einer klassischen „Kernfami- lie“ wie meiner – und sind dennoch genauso liebevoll, verrückt und in-den-Wahnsinn-treibend. Family Diversity Projects ist eine US-amerikanische Organisation, die genau das in den Fokus rückt. In ehrlichen, unpathetischen und dennoch berührenden Bildern feiern sie die Vielfalt von Familien, die gleich- zeitig Ausdruck unserer Gesellschaft ist – und das stille Fundament, das ihnen allen unterliegt. Ein Fun- dament aus Liebe, gegenseitiger Unterstützung und dem Wissen, dass man zusammengehört. Geschichten voller Liebe Gegründet wurde Family Diversity Projects 1995 von der Journalistin Peggy Gillespie und der Erzieherin und Fotografin Gigi Kaeser. Mit ihren Fotoausstellun- gen setzen sie sich gegen Diskriminierung aufgrund sexueller Orientierung, Geschlecht, Herkunft, Reli- gion und allen Formen von Beeinträchtigungen ein. „Wir glauben, dass eine der wirksamsten Methoden zur Bekämpfung von Vorurteilen darin besteht, echte Geschichten mit Ehrlichkeit, Würde und Liebe zu er- zählen“, erklären sie auf ihrer Website. Acht Fotoausstellungen haben sie dafür bis heute er- stellt, jede davon bietet zu den gerahmten Porträts auch Interviewausschnitte der abgebildeten Personen. Die Ausstellungen haben verschiedene Schwerpunkte: AUTHENTIC SELVES (dt.: „authentisches Selbst“) zeigt trans und non-binary Personen und ihre Fami- lien, BUILDING BRIDGES (dt.: „Brücken Bauen“) zeigt Porträts von geflüchteten Menschen und Men- schen mit Migrationsgeschichte. Seit über 30 Jahren werden die Bilder in Bildungsinstitutionen, religiösen Einrichtungen, Bibliotheken und Museen ausgestellt, seit dem Ausbruch der Covid- Pandemie 2020 gibt es die Ausstellungen auch online. Die Prämisse von Family diversity projects: „Angesichts unzähliger ent- menschlichter Darstellungen von Menschen mit Migrations- geschichte und Fluchterfah- rung, queeren und Schwarzen Menschen ist es umso wichti- ger, Gemeinschaft zu schaffen und wahre Geschichten über bemerkenswerte und liebevolle Menschen zu teilen“ Dabei richten sie sich besonders auch an Schüler:in- nen. Mit Erfolg: „Pädagogen sagen uns, dass die Aus- richtung einer Ausstellung Empathie fördert, den Dialog anregt und den Schüler:innen eine authenti- sche Darstellung bietet, die sie in Lehrbüchern oder Mainstream-Medien selten zu sehen bekommen“, heißt es auf der Website. Das beweist gleichzeitig, dass mehr solcher lebens- nahen Bilder nötig sind, um angemessene Repräsen- tation zu schaffen. Genau das tut die Ausstellung „In Our Families“ (deutsch: „In Unseren Familien“). 40 Familien aus verschiedenen Teilen der USA, alle von ihnen mit sogenannten Diversitätsmerkmalen, wer- den darin vorgestellt – von Patchwork-Familien über Mehrgenerationenhaushalte zu Pflegefamilien. Viele Familienmitglieder haben aufgrund ihrer Herkunft, Hautfarbe, Sexualität oder aufgrund von Krankheit Diskriminierung und Stigmatisierung erlebt oder er- leben sie immer noch. Doch sie erfahren auch Halt, von ihren Eltern, Geschwistern, von Freund:innen und der Gemeinschaft. Auf den nächsten Seiten erzählen sie, was Familie für sie bedeutet – und zeigen uns die vielen schönen, warmen, familiären Lebensrealitäten, die uns im All- tag still umgeben. Good News Magazin 55
m o c . s o t o h p t i s o p e d - r E R O T S X P R G ; i n o s r e P k c a J d n a r e t s e h C k r a M h t i w r e s e a K i i g G / s t c e o r p y t i j Vera Hay: „Meine Großmutter, meine Mutter, einige meiner Kinder und einige meiner Enkelkinder leben alle zusammen unter diesem Dach. Ich genieße es, wenn meine Enkelkinder mir vor dem Schlafengehen „Gute Nacht, Oma“ sagen. Dann drehe ich mich um und sage zu meiner Großmutter: „Gute Nacht, Oma.“ – Das hier ist die einzige Familie, die ich kenne. Vor langer Zeit mussten wir Arkansas verlassen, weil wir mixed race sind und es dort für uns nicht sicher war. Seitdem waren wir vom Rest der erweiterten Familie abgeschnitten. Jetzt, wo meine Enkelkinder erwachsen werden, können wir anfangen, Familienfeiern zu haben. Wir haben unseren eigenen riesigen Stammbaum direkt in unserem Haushalt!“ Ich genieße es, wenn meine Enkelkinder mir vor dem Schla- fengehen „Gute Nacht, Oma“ sagen. Dann drehe ich mich um und sage zu meiner Großmutter: „Gute Nacht, Oma.“ s r e v d y i l i m a F : d l i B Maryka Parks (10): „Die meisten Menschen in meiner Familie sind witzig und bringen mich zum Lachen. Ich kümmere mich viel um meine Urgroßmutter, bringe ihr Essen und so. Meine Oma ist wirklich witzig. Ich denke, wir sind einfach eine große, volle Familie, eine liebevolle, wundervolle Familie.“ Good News Magazin 57
Burnning Cloud mit Sohn Falcon Burning Cloud: „Ich wurde als Kind assimiliert, also von meiner Native American Familie weggeschickt, um mit einer weißen Familie zu leben. Über die Jahre erlebte ich Rassismus, Klassismus, und Homophobie. Ich begann, Drogen und Alkohol zu konsumieren, weil ich so wütend war. Als mein Sohn, Falcon, geboren wurde, lebte ich noch auf der Straße. Seine Geburt und die Verantwortung als alleinerziehende Mutter haben mein Leben verändert. Ich bin seit fast zehn Jahren clean und trocken und arbeite als Beraterin für Drogen- und Alkoholkonsum mit der indigenen Bevölkerung.“ Falcon (10): „Als meine Mutter mir gesagt hat, dass sie lesbisch ist, dachte ich: Das ist ihre Entscheidung, nicht meine. Ich wusste, dass ich nichts daran ändern kann, also habe ich mich für sie gefreut. Sie wird immer meine Mutter sein und ich liebe sie sehr.“ 58 Good News Magazin
m o c . s o t o h p t i s o p e d - e a s e e r f ; l i n o s r e P k c a J d n a r e t s e h C k r a M h t i w r e s e a K i i g G / s t c e o r p y t i j Familie Okun/Bemak s r e v d y i l i m a F : d l i B Adi Bemak: „Meine Töchter, Amber und Lani, waren bei der Scheidung acht und fünf Jahre alt. Als Rob und ich entschie- den haben, zu heiraten, waren sie fast erwachsen. Robs Kinder waren viel jünger als meine und alle meine Freunde meinten zu mir: „Jetzt fängst du wieder von vorne an, mit jungen Kindern?“ Rob Okun: „Aviva war sechs und Jonah drei, als ihre Mutter und ich uns scheiden ließen. Seitdem teilen wir uns das Sorgerecht und ich sehe mich als Vollzeit-Vater. Mir war immer wichtig, allen vier Kindern zu sagen, dass Adi und ich uns voll und ganz auf die Beziehung einlassen und dass wir alle Teil davon sind. Wir sind eine Familie. Das ist gar keine Frage. Die Liebe ist da.“ Aviva Okun (13): „Am Anfang war es seltsam, weil ich meinen Vater nur für mich haben wollte. Ich habe nicht darüber geredet, aber innerlich war ich oft wütend. Langsam gewöhne ich mich daran. Ich liebe es, Schwestern zu haben. Es ist so, als wären die ganze Zeit Freundinnen zu Besuch.“ Lani Bemak (17) „Am Anfang waren Amber und ich außer uns, dass unsere Familie sich ändert. Wir waren so stolz auf unsere Familie, so, wie sie war – Amber, Mom und ich. Inzwischen liebe ich es. Ich wollte immer eine große Familie.“ Good News Magazin 59
Julie (10) „Ich würde Familie definieren als Mama, Papa und Kind, aber es könnte auch einfach eine Gruppe von Menschen sein, die einander mögen. Oder ein Kind mit einem Elternteil. Familien gibt es in so vielen verschiedenen Formen und Größen!“ m o c . s o t o h p t i s o p e d - E R O T S X P R G ; i n o s r e P k c a J d n a r e t s e h C k r a M h t i w r e s e a K i i g G / s t c e o r p y t i j s r e v d y i l i m a F : d l i B Familie Park Joong-Jean Park: „Für mich ist die Definition von Familie: Ehemann, Ehefrau und ihre Kinder. Ich weiß, dass viele Menschen das anders sehen. Aber egal wie ihre Standpunkte sind, ich behandle alle Menschen, denen ich begegne, mit Respekt und Freundlichkeit Jung-Ah Park: „Der Kern einer Familie ist Liebe, aber meine Familie sagt nicht oft laut: „Ich liebe dich“. In unserer Familie zeigen wir unsere Liebe, indem wir Dinge füreinander tun. Das ist ein Unterschied zwischen US-amerikani- schen und koreanischen Familien“ 60 Good News Magazin
Sheila Benjamin: Als Bonnie und ich zusammengekommen sind, war mein Sohn Eric 14 Jahre alt. Ich wusste sofort, dass Bonnie die andere Mutter meiner Kinder sein soll. Sie ist so lieb und gutherzig und das wollte ich in meine Familie bringen. Als Familie stehen wir für Gerechtigkeit, Ehrlichkeit und Vielfalt ein. Liebe überwindet alle Grenzen, die es zwischen uns geben könnte.“ Eric DeMarco Benjamin (18): „Ich bin stolz auf meine Familie. Meine beiden Mütter haben mir beigebracht, dass jeder Mensch Respekt verdient und mir geholfen zu lernen, mich selbst zu respektieren. Ich finde es cool, dass eine meiner Mütter Schwarz ist und die andere weiß. In unserer Familie gibt es keinen Platz für Rassismus. So sollte es überall sein!“ Familie Benjamin/Zellers Good News Magazin 61
m o c . s o t o h p t i s o p e d - 2 2 3 a d u L ; i n o s r e P k c a J d n a r e t s e h C k r a M h t i w r e s e a K i i g G / s t c e o r p y t i j s r e v d y i l i m a F : d l i B Familie Bellavance-Grace Karen Bellavance-Grace: „Pflegeeltern zu sein ist die stolzeste Errungenschaft meines Lebens und die Erfahrung, die mir mehr zurückgibt als alles andere. Die Kinder, mit denen Beth und ich gearbeitet haben, sind außergewöhnlich. Sie sind liebenswert und liebevoll; sie sind Schätze, jedes einzelne von ihnen.“ Beth Bellavance-Grace: „Der Abend, an dem Tommy zu uns nach Hause kam, war unbeschreiblich. Ich erinnere mich, wie ich damals vor fünf Jahren die Tür öffnete und da waren diese großen, runden, blauen Augen, die mich und Karen ansahen! Seitdem hatten wir sieben Pflegekinder. Letztes Jahr konnten wir Tommy adoptieren, jetzt sind wir für immer seine Familie.“ 62 Good News Magazin
Familie Mc Dowell William McDowell: „Nach der Diagnose konnten wir Jakes Symptome besser verstehen und einordnen. Das hat unserer Familie enorm geholfen, sich anzupassen und zu verändern. Wir sagen Jake, dass er unglaublich stark ist, weil er diese Krankheit besiegt hat. Wir erinnern ihn daran, dass er es selbst geschafft hat, von innen heraus, weil wir nichts tun konnten, um ihm zu helfen.“ Mc Dowell: „Manche Menschen sind besessen von Baseball, ich bin besessen von Bakterien. Bevor ich wusste, dass ich OCD habe (Anmerkung d. Red.: kurz für Obsessive-Compulsive Disorder, auf Deutsch Zwangsstörung. Betroffene leiden unter aufdringlichen und wiederkehrenden unerwünschten Gedanken, Bildern, Befürchtun- gen, Zweifeln, Impulsen oder Gefühlen), habe ich einfach getan, was ich eben tue und fand es nicht unge- wöhnlich. Aber die Leute um mich herum dachten, ich verhalte mich seltsam. Nachdem der Arzt mir erklärt hat, dass ich eine Krankheit habe, die OCD heißt, war ich so viel glücklicher, weil ich wusste, dass ich nicht verrückt bin. Ich habe in der Schule darüber gesprochen und das hat dazu beigetragen, dass OCD auch bei anderen Kindern festgestellt wurde.“ Good News Magazin 63
Ein Gespräch über aromantische Lebensrealitäten „What is Love?“ – Viel mehr als Romantik Anni und Katha betreiben mit ace_arovolution Bildungsarbeit zu Aro- mantik und Asexualität. Ein faszinierendes Gespräch über ihre Erfahrun- gen, das Erblühen der aromantischen Community und den tiefen Wert aller zwischenmenschlichen Beziehungen. Luisa Vogt Anni Katha „Für mich bedeutet aromantisch sein: Ich verliebe mich nicht in Leute, ich habe kein Interesse daran, mich in andere Leute zu verlieben, ich versteh den Hype ehrlich gesagt auch nicht so richtig – also ich verstehe den Hype um zwischenmenschliche Nähe und Beziehungen, aber ich verstehe nicht, warum das romantisch sein muss.“ – Anni „Es ist ganz einfach und super wirksam, wenn man an- erkennt, dass es Menschen gibt, die sich nicht verlie- ben und/oder, die sich nicht verlieben wollen.“ – Katha Ich habe noch nie einen Podcast gehostet und hatte auch nie das Bedürfnis dazu. Bis jetzt. Denn schon we- nige Minuten nach Beginn dieses Interviews, das sich schnell mehr wie ein Gespräch zwischen befreundeten Personen anfühlt, wünsche ich mir, alle Leute könnten daran teilhaben. Das liegt vor allem an Anni und Katha. Die beiden sind nicht nur wahnsinnig eloquent, son- dern auch warm, herzlich und ein eingespieltes Team. Mit ihrer Art machen sie das möglich, was uns bei vie- len Diskussionen gerade über potenziell sensible The- men oft im Weg steht: Hemmungen auszuräumen, so- dass wirklich alle Fragen gestellt werden dürfen. Was ist „Romantik“? Was bedeuten Bezeichnungen wie „quoi-romantisch“? Wofür brauchen wir solche Be- zeichnungen überhaupt? Es ist ein Gespräch über tiefgehende, persönliche Er- fahrungen, über so grundlegend wichtige Dinge wie zwischenmenschliche Nähe und politisch aufgeladene Themen wie queere Repräsentation. Trotzdem habe ich bisher bei keinem Interview so viel gelacht. Es muss nicht schwer sein, sich Lebensrealitäten zu öffnen, die unsere Grundsätze hinterfragen. Und am Ende profi- tieren wir alle davon, wenn aromantische Menschen und Lebensweisen mehr Sichtbarkeit erfahren. 64 Good News Magazin
Katha und Anni definieren Aromantik in ihrem Buch so: „Aromantik, manchmal auch Aromantizität, ist eine romantische Orientierung. Aromantisch zu sein bedeutet keine, wenig, zeitweise und/oder nur unter bestimmten Umständen romantische Anzie- hung zu empfinden. Genauso kann es etwa bedeu- ten, keine romantische Beziehung führen zu wol- len oder Romantik als Konzept nicht zu verstehen. Aromantik bezeichnet also ein Spektrum, das viele verschiedene Erfahrungen umfasst. Der Begriff aromantisch kann als aro abgekürzt werden. Men- schen, die romantisch, also nicht aromantisch sind, werden als alloromantisch (auch allo oder alloro) bezeichnet.“ S.13 Was nun aber „romantisch“ bedeutet, ist für jede*n von uns individuell anders – und auch sehr stark kulturell geprägt. In vielen, gerade westlichen Kul- turen, wird „Romantik“ mit einem bestimmten Ge- fühl und einer bestimmten Beziehungsform in Verbindung gebracht, die Verliebtheit, Zärtlichkeit mit emotionaler Bedeutung und romantische Ges- ten umfasst. Was allerdings romantische Gesten sind, ist subjektiv – von medial aufgeladenen Sym- bolen wie roten Rosen und Sonnenuntergang zu Zeichen, die nur für uns selbst und unsere Part- ner:innen Bedeutung haben. Auch wenn Menschen, die aromantisch sind, den Wunsch nach romantischen Beziehungen nicht oder weniger verspüren als alloromantische Men- schen, können sie sehr tiefe, liebevolle Beziehun- gen führen — auch ohne das romantische Element, wie es in unserer Kultur oft erwartet wird. Aromantik sichtbar machen Wenn man Katha und Anni fragen würde, wie sie sich kennengelernt haben, wäre die Antwort: „Wir haben ein Buch zusammen geschrie- ben“. „Das ist auf meinem Mist gewachsen“, gibt Katha lachend zu. „Ich wusste schon immer, dass ich nicht hetero bin. Irgendwann habe ich dann begonnen, das Label ‘asexuell’ für mich zu nutzen“. Aber wie sollte man erklären, was diese Selbstbezeichnung eigentlich bedeutet? Lesbisch, schwul, vielleicht auch queer, dar- unter können sich inzwischen viele Menschen etwas vorstellen. „Aber wenn ich sage „Mama, ich bin asexu- ell“, weiß sie gar nicht, was das heißt.“ So entstand der Entschluss, ein Buch zu schreiben, „in dem ich erkläre, was Asexualität ist, was die Geschichte davon ist und was es darüber zu wissen gibt – ein Buch, das ich Menschen in die Hand drücken kann und sa- gen: Ich bin das. Weil ich keine Lust habe, es jeder Per- son einzeln erklären zu müssen.“ In dem Buch sollte es nicht nur um Asexualität, son- dern auch um Aromantik gehen. Zu dem Zeitpunkt be- zeichnete sich Katha selbst noch nicht als aromantisch – dann brachte eine gemeinsame Freundin Anni ins Spiel. Erfahrung im Schreiben oder Publizieren von Sachbüchern hatten beide nicht, aber der Wille war da – und die Chemie stimmte. 2022 wurde „(Un)sichtbar gemacht: Perspektiven auf Aromantik und Asexuali- tät“ veröffentlicht. Gleichzeitig war beiden klar, dass es nicht beim Buch bleiben sollte. Eine Entwicklung „steil nach oben“ „Wir haben schnell gemerkt, dass wir noch mehr Bil- dungsarbeit machen wollen, über dieses Medium Buch hinaus“, erzählt Katha. So entstand ace_arovolution – aus „ace“, der Abkürzung für Asexualität und „aro“, der Kurzform für „Aromantik“. Seit 2020 teilen sie auf So- cial Media Beiträge, zunächst Einblicke in die Buch- recherche, heute allgemeine Denkanstöße, eigene Er- fahrungen und vor allem Ressourcen für Menschen, die selbst aromantisch, asexuell oder beides sind, sich in ihrer romantischen oder sexuellen Orientierung nicht sicher sind oder alle Menschen, die mehr zu Aro- mantik und Asexualität wissen wollen. Die Entwicklung hat sie selbst überrascht. „Wir haben uns damals selbst noch eingefunden in das Thema und die Community“, erklärt Anni. „Ich hatte vorher eigent- lich keine Bezugspunkte zur aspec Community, aber es ging irgendwie stetig weiter – und auch ziemlich steil“. 2021 berichteten sie zum ersten Mal beim Erzählcafé eines queeren Jugendclubs über ihre Erfahrungen mit Asexualität und Aromantik, danach kamen immer mehr Anfragen für Buchvorstellungen. Heute geben sie regelmäßig Workshops und arbeiten neben ihrer Social Media - Präsenz an weiteren Buchbeiträgen. Good News Magazin 65
Asexualität und Aromantik – was zusammengehört und was nicht Sowohl in Gesellschaft als auch Wissenschaft herrschte lange die Vorstellung, dass Asexualität und Aromantik notwendigerweise miteinander ein- hergehen müssten. Das ist jedoch nicht der Fall. Tat- sächlich entstand die Bezeichnung „aromantisch“ aus der asexuellen Community und wurde Anfang der 2000er Jahre erstmals online gebraucht, um ge- nau diese Abgrenzung zu betonen: Dass es Men- schen gibt, die keine sexuelle Anziehung empfinden, wohl aber romantische Gefühle – und andersherum. Der Begriff aspec (aus dem Englischen von a- und „spectrum“) beschreibt als Überbegriff alle Perso- nen, die sich auf dem asexuellen und/oder aroman- tischen Spektrum verorten. Da die Gemeinschaften dieselben Wurzeln haben und es Menschen gibt, die sowohl aromantisch als auch asexuell sind, bie- ten viele Organisationen Repräsentation für beide Spektren. Dennoch ist es sinnvoll, Aromantik und Asexualität voneinander abzugrenzen, da die Er- fahrungen asexueller und aromantischer Menschen komplett unterschiedlich sein können. Für Anni und Katha ist es darum eine sehr positive Entwicklung, „dass Aromantik zunehmend einen eigenen Platz in der großen Community haben kann und sich etwas vom ‘großen Geschwisterkind Asexualität’ befreit“. Mit ihrer Bildungsarbeit wollen sie bewirken, „dass Men- schen, die sich vielleicht noch nicht mit Aromantik (und Asexualität) auseinander gesetzt haben, merken, dass es nicht nur etwas Theoretisches ist. Sondern, dass es Men- schen gibt, die diese ganz anderen Lebenserfahrungen ha- ben“, meint Katha. Darum enthält ihr Buch auch Texte, in denen sie ihre eigenen Erfahrungen schildern. Das macht den Perspektivwechsel leichter. Für andere aromantische und/oder asexuelle Menschen und für Personen, die sich ihrer romantischen Orientierung nicht sicher sind, sind diese persönlichen Texte auf eine weitere Art besonders wertvoll, erklärt Katha: „Ich bekomme immer wieder die Rückmeldung, dass es interessant und hilfreich ist, meinen persönlichen Text zu lesen – dass meine Erfahrungen zu teilen anderen Menschen zeigt, dass es okay ist, so zu empfinden und dass sie in ihrem Empfinden nicht allein sind.“ Quoi?-Romantik, oder: „Ist das jetzt Verliebtsein?“ Aber was sind denn nun jetzt die Lebenserfahrungen aromantischer Personen? Darauf gibt es keine pau- schale Antwort. Schließlich ist jede Lebenserfahrung individuell. Anni beispielsweise bricht die eigene Er- fahrung in etwa so herunter: „Ich habe öfter mit einer Freundin darüber gesprochen, wie sich Verliebtsein anfühlt und sie meinte: ‘Das weißt du dann halt ein- fach.’ Nur wusste ich einfach, dass ich mich eben nicht verliebt hatte.“ Auch wenn es trotzdem mehrere Jahre brauchte, bis Anni das Label „aromantisch“ für sich annahm, war klar: „Ich verliebe mich nicht in Leute und ich habe kein Interesse daran, mich in andere Leute zu verlieben.“ Für Katha war all das deutlich weniger eindeutig: „Ich habe keine Ahnung, was Romantik sein soll und wie sich romantische Gefühle anfühlen sollen. Für mich bedeutet diese Unsicherheit, dass ich auch nicht sicher sein kann, das noch nie empfunden zu haben.“ Es gibt was romantische Orientierung betrifft noch Formen bzw. Begriffe über allo- und aromantisch hinaus. Katha benutzt zur Erklä- rung im Gespräch die Kuchenmetapher: „Aromantisch ist so ein Wort, das so super stret- chy ist, wie jedes Label. Einen Kuchen gibt es auch in ganz verschiedenen Geschmacksrich- tungen und Texturen, dann kann es doch auch aromantische Menschen in ganz vielen…“ zö- gert, und endet fragend: „… Geschmacksrich- tungen und Texturen geben?“ (alle lachen) - „der Vergleich bringt es bestimmt sehr gut rüber.“ Tut er für mich tatsächlich. Sich selbst bezeich- net Katha als quoi-romantisch, denn „quoi“ steht für genau das Gefühl, das Katha beschrie- ben hat, nämlich: „was soll denn „Romantik“ sein? Wie fühlt sich das an?“ Und zwar wort- wörtlich, denn „quoi“ kommt aus dem Franzö- sischen und bedeutet: „was?“. Katha hat für sich selbst gelernt, dass es keine Antwort auf diese Frage geben muss: „Ich muss gar nicht heraus- finden, ist es Romantik, ist es Freundschaft, ist es vielleicht etwas ganz Anderes – ich muss es nicht benennen, es ist okay“ 66 Good News Magazin
wann hast du denn endlich mal einen Freund?’“. Bestärkt wird diese Wahrnehmung auch durch die Me- dien, wo kaum eine Handlung, ob in Literatur, Film oder Serien, ohne romantische Verwicklung auskommt. „Ich versteh den Hype nicht“, lautet Annis trockener – und durchaus gerechtfertigter – Kommentar angesichts dieser Omnipräsenz. Denn warum sollen romantische Beziehungen einen so zentralen, oftmals höheren Stel- lenwert einnehmen als andere zwischenmenschliche Beziehungen? Die Phrase „mehr als nur befreundet“ ist darum für Anni ein rotes Tuch: „Was meinst du damit, ‘nur befreundet’?! Sind meine Freund:innenschaften weniger wert als romantische Beziehungen, die für mich persönlich gar keine Rolle spielen?“ Nicht-verliebt ist völlig in Ordnung Natürlich nicht, lautet wohl die spontane Reaktion auf Annis Frage. Und doch ist es das Gefühl, das – zumin- dest in der deutschen Kultur und Gesellschaft – häufig wohl auch unbewusst vermittelt wird. Für Katha wurde das in der Teenagerzeit besonders deutlich, in der Zeit, „als meine Freundinnen plötzlich alle so waren: ‘Oh mein Gott, Jungs!!’, und ich damit überhaupt nichts an- fangen konnte“. So entstand ein Gefühl der Entfrem- dung zu den Mitschüler:innen und selbst zu engen Freund:innen. Denn „als dann alle angefangen haben zu daten, war ich die eine Person, die einsam rum saß und sich dachte: Und was ist mit mir?“, beschreibt Katha. „Dann hatte ich ein paar Jahre auch wirklich eine totale existenzielle Krise, weil ich mich total ein- sam fühlte und dachte, alle werden mich verlassen.“ Rückblickend schildert Katha diese Erfahrungen und Gedanken mit einem Lachen. Das ändert aber nichts am Ernst und der Schwere dieser Gefühle. Denn Ein- samkeit und die Angst vor Einsamkeit ist immer noch für viele aromantische Personen eine sehr reale und zentrale Erfahrung. Selbst wenn sie, wie Katha, eigent- lich ein unterstützendes Umfeld haben, sei da unbe- wusst immer der Druck, sich an die Vorstellungen der Gesellschaft anzupassen. Was dagegen helfen würde? Eigentlich ganz einfach, wenn es nach Katha geht: Nicht davon auszugehen, dass alle Menschen, die aktuell keine romantische Bezie- hung haben, sich unbedingt verlieben wollen. Das sei übrigens nicht nur für aromantische Personen hilfreich, sondern auch für Menschen, die einfach einmal Single sein wollen – und erfüllt eigentlich einen gesellschaft- lichen Grundsatz: zu akzeptieren, dass andere Men- schen andere Wünsche und Prioritäten haben, als wir selbst. Wie „Romantik“ geschaffen wird Apropos benennen: Bei allen Erklärungen bisher gibt es den einen zentralen Begriff, der noch immer nicht geklärt ist. Denn Aromantik, ganz klar, kommt von „Romantik“. Doch was ist „Romantik“? Ist es ein Can- dlelight-Dinner? Beim Sonnenuntergang am Strand sitzen? Ein Liebesbrief? Oder zählt auch, wenn ich meinem erkälteten Partner Kürbissuppe koche? „Je mehr ich darüber nachdenke, desto unmöglicher finde ich es, Romantik zu definieren“, meint Anni zu dieser Frage. Und wenn ich selbst ehrlich bin, geht es mir als nicht-aromantische (allo) Person genauso. Nur komme ich selten in die Situation, mir Gedanken dar- über machen zu müssen, was für mich „romantisch“ ist. Für aromantische Personen ist das anders, denn „aromantisch“ funktioniert nun einmal über die Ab- grenzung zu „romantisch“. Eine Ironie, die Anni auf den Punkt bringt: „Im Buch antworten wir auf die Frage ‘Was ist Romantik eigentlich?’ sinngemäß: Ihr fragt hier eine Person, die es nicht empfindet und eine Person, die keine Ahnung hat, was es sein soll – wir wissen es also auch nicht“. Dennoch haben viele von uns bestimmte Vorstellun- gen von „Romantik“ im Kopf, von „romantischen“ Symbolen wie Rosen zur „romantischen Atmosphäre“, sprich besagtes Kerzenlicht oder Sonnenuntergänge. Symbole sind dabei ein gutes Schlagwort, denn letzt- endlich ist Romantik vermutlich genau das: Etwas Symbolisches, eine Bedeutung, die Handlungen oder Situationen zugeschrieben wird. Die Sache mit der Normativität Das heißt nicht, dass es keine Romantik gibt oder ihr der Wert abgesprochen werden soll, im Gegenteil. Roman- tik kann etwas sehr Schönes sein. Problematisch wird es dann, wenn andere Lebensformen oder Beziehungen im Vergleich dazu abgewertet werden – etwas, das als „Allonormativität“ bezeichnet wird. Es bezeichnet die Grundidee, dass alle Menschen Romantik empfinden können, sollen oder müssen, erklärt Anni, „darunter fällt zum Beispiel, dass nicht groß darüber nachgedacht wird, wenn Tante Gerda bei der Familienfeier fragt: ‘Na, Good News Magazin 67
Ein kurzer Exkurs in die Geschichte der „Romantik“ Als ich nach der Geschichte der Romantik frage, werde ich von Anni mit leuchtenden Augen und einem freudi- gen: „Ha, das ist mein Kapitel!“ belohnt. Es ist ein ext- rem komplexes, weil sehr weites Themenfeld, das von der Geschichte der Liebe über philosophische For- schungen, die Geschichte der Ehe zum Minnesang reicht – wer jetzt neugierig ist, darf gerne nachlesen! Hier machen wir die komprimierte Version: Stark zusam- mengefasst, erklärt Anni, kommt der Begriff der „Ro- mantik“ – oh Wunder – aus der Epoche der Romantik, die Ende des 18. Jahrhunderts begann. In dieser Zeit erhiel- ten immer mehr Menschen Zugang zu Bildung und Schriftsprache und ein neues literarisches Genre wurde populär: der Roman. Das Wort bezeichnete anfangs Texte, die in Ländern wie Frankreich oder Italien in „ro- manischer Sprache“ geschrieben waren, also nicht mehr auf Latein. Im Deutschen nutzten Schriftsteller den Be- griff und die Form des Romans, um sich von klassischen Literaturformen und -themen abzugrenzen. An Stelle der Verherrlichung der Antike trat die Romantisierung des Mittelalters und seiner Sagen- und Mythenwelt. Gleichzeitig war das die Abgrenzung vom vorher herr- schenden Fokus auf Vernunft und Rationalität: Die Hinwendung zum Mittelalter bot Raum für Fantasien von ungebremsten Gefühlen, tragischen Held:innen, Rittern, die Burgfräulein vor Drachen und allerlei sons- tigen Gefahren retteten – aus aufrichtiger Liebe und brennender Leidenschaft. Gefühlsreichtum war en vogue, zum ersten Mal auch in partnerschaftlichen Be- ziehungen. Waren Eheschließungen zuvor eher zweck- mäßige Allianzenbildungen wurde ab Ende des 18. Jahr- hunderts Gefühlstiefe zum ausschlaggebenden Krite- rium – auch Dank des zunehmenden Wohlstandes der Bevölkerung in Zeiten der Industrialisierung, die weni- ger zweckgebundene Beziehungen ermöglichte. So empfahl der Staatsdiener und Schriftsteller Adolph Freiherr von Knigge bereits 1788, den Ehepartner aus Zuneigung zu wählen. In den 250 Jahren seit seiner Ent- stehung hat das Narrativ der Romantik viele weitere Symbole und Interpretationen hinzugewonnen und prägt unsere Vorstellungen vielleicht mehr als vorher, im guten wie im kritischen Sinn. Wenn Oma es kann… Dass das möglich ist, steht außer Frage. Für Anni zum Beispiel war ihr soziales Umfeld immer „ein Positiv- beispiel“, vom Kreis ihrer Freund:innen über die Fa- milie zu den Klassenkamerad:innen. Ein besonders schönes Beispiel: „Ich hatte meiner Oma unser Buch hingelegt – es also praktisch ausprobiert, wie es ist, wenn man einfach so unser Buch hinklatscht und Leute damit alleine lässt und wenn sie es gelesen haben, können wir darüber re- den. Sie hat mir danach dann ein paar Nachfragen ge- stellt. Vor allem ging es ihr darum, ob ich glücklich bin. Und dann fing sie an, Leute aus der Familie aufzuzäh- len, die einfach nie verheiratet waren, da war aus jeder Generation eigentlich mindestens eine Person dabei, aber soweit ich das mitbekommen habe, war es nie ein Thema, dass die nie verheiratet waren. Also es kann so einfach sein, Leute einfach ihr Leben leben zu lassen.“ … kann es auch die Gesellschaft (?) Nun sind nicht alle Menschen so offen wie Annis Oma. Aber grundsätzlich gilt ja: Sobald wir eine gesellschaft- liche Thematik erst einmal auf dem Schirm haben, wachsen auch die Möglichkeiten, Auseinandersetzung damit und Verständnis dafür zu schaffen. Umso wichti- ger also, dass Aromantik immer mehr Sichtbarkeit er- langt, vom Tag des aromatischen Spektrums am 25. Au- gust zur Aromantic Spectrum Awareness Week – oder kürzer und einfacher: Aro-Week im Februar. Aromantic spectrum awareness week Auch in der Wissenschaft tut sich etwas, betont Anni, gerade in den letzten fünf Jahren seien mehrere Bü- cher veröffentlicht worden, die Aromantik und Ase- xualität gleichwertig thematisieren. Erst Anfang Okto- ber 2025, wenige Tage vor unserem Gespräch, erschien ein deutschsprachiges Buch, das sich ausschließlich mit Aromantik, Liebeskonstruktionen und Freund:in- nenschaft beschäftigt. Die nächsten Bücher sind schon in Arbeit, darunter auch eines der englischsprachigen Organisation AUREA (Aromantic-Spectrum Union for Recognition, Education, and Advocacy), bei dem Anni, wie könnte es anders sein, ein Kapitel zur Ge- schichte der Aromantik beiträgt. 68 Good News Magazin
aromantische Menschen keine Liebe empfin- den können. Neben romantischer Liebe gibt es ja durchaus viel mehr, zum Beispiel freund- schaftliche Liebe oder familiäre Liebe oder auch Liebe die mensch zu Hobbys, zu Haustie- ren, zu allem Möglichen haben kann und einige aromantische Menschen empfinden auch ro- mantische Liebe, nur eben nicht so oft oder in- tensiv wie alloromantische Leute. Dass wir die- ses Missverständnis ausräumen, soll aber nicht bedeuten, dass wir die Abwesenheit von Liebe verteufeln. Im Gegenteil, wir sind sehr interes- siert daran zu verstehen, wie sich das Konzept Liebe entwickelt hat (denn selbstverständlich ist das nicht einfach nur ein ‘naturgegebenes Gefühl’) und auch welche gesellschaftlichen Funktionen damit verbunden sind.“ Zum Buch von Anni und Katha „[un]sichtbar gemacht“ Kurzvorstellung Annika Baumgart Anni (sie/ihr) ist Autor*in, queere*r Bildungsrefe- rent*in und Theatermacher*in aus Mainz. Sie hat Theaterwissenschaft studiert, singt im Chor und liebt bunte Socken. Gemeinsam mit Katha hat sie das queere Bildungsprojekt ace_arovolution gegründet. Katharina Kroschel Katha (keine Pronomen) ist queere*r Bildungsre- fernt*in und Autor*in aus Köln, wo Katha auch einen Master in Gender & Queer Studies gemacht hat. Der- zeit ist Katha in mehreren Projekten angesiedelt, allen voran ace_arovolution und AroAceBildung, und hat einen unerfüllten Katzenwunsch. Ein neues (Selbst-)Bewusstsein Die wachsende Sichtbarkeit ermöglicht auch eine größere Vernetzung innerhalb der Community. So finden aromantische Menschen immer mehr Anlauf- stellen, von regionalen Stammtischen zu Online- Plattformen. Foren und Blogs ermöglichen den Aus- tausch über eigene Erfahrungen und Fragen, wo Un- sicherheit besteht. – Wo stehe ich auf dem aromanti- schen Spektrum? Kann ich als aromantische Person auch hin und wieder romantische Gefühle empfinden (die Antwort ist übrigens: ‘ja’)? – Sie können ein Ge- fühl der Zugehörigkeit und des Verständnisses für Menschen schaffen, die sich sonst mit ihren Empfin- dungen allein fühlen würden. „Letztens hatte mich eine Person mit Fragen zu einem bestimmten Thema angeschrieben und ich konnte ihr sofort mehrere Ressourcen und Anlaufstellen nennen, das wäre vor fünf Jahren noch undenkbar gewesen“, berichtet Anni freudig, und Katha ergänzt: „Ich habe den Eindruck, dass die Aro-Community in den letzten Jahren aktiver und selbständiger geworden ist und noch ein bisschen mehr erblüht ist“. Dazu haben sie im deutschsprachigen Raum sicher auch einen erhebli- chen Teil beigetragen – und tun es weiterhin. Diese Entwicklung ist ein Gewinn für Menschen, die sich als aromantisch bezeichnen, aber auch für uns alle. Warum? Weil uns das Hinterfragen unseres Ver- ständnisses von „Romantik“ lehren kann, andere Le- bensrealitäten anzuerkennen und unterschiedliche Lebens- und Beziehungsmodelle nicht zu verurteilen. Und auch, weil wir dadurch lernen können, all unsere Beziehungen gleichermaßen wertzuschätzen, ob Fa- milie, Freund:innen oder romantische Partner:innen. Denn, auch wenn es kitschig klingen mag: Liebe ist etwas, das nicht weniger wird, wenn wir es aufteilen. Disclaimer: Loveless is not sick! Bei aller Liebe (ja, das war Absicht), gibt es einen wichtigen Aspekt, den wir nicht außen vor lassen dürfen: Die Abwesenheit von Liebe, auch bekannt als „Lovelessness“. Katha erklärt es wie folgt: „Es gibt das Konzept von Lovelessness, also von Personen, die von sich sagen, sie können gar keine Liebe empfinden. Ich glaube, viele von den Personen, die das für sich verwenden, sind aromantisch, aber das muss sich nicht bedin- gen. Es gibt oft die Fehlannahme, dass m o c . l i h s a p s n u - o c r e u G a r a h C i : d l i B Good News Magazin 69
Wie Pride-Flaggen für Sichtbarkeit, Solidarität und Selbstbestimmung stehen Bunt bleibt politisch Pride-Flaggen sind viel mehr als Symbole. Sie sind Ausdruck von Geschichte, Identität und dem fortwährenden Kampf um Gleichberechtigung. Und: Sie erinnern uns daran, dass Demokratie nie selbstverständlich ist. Dr. André Latz Wenn im Juni die Straßen bunt werden, geht es um mehr als Farben. Es geht um Würde, Vielfalt und das Recht, sich zu zeigen – wie man ist. Der Begriff „Pride“ steht dabei für einen stolzen, selbstbestimmten und selbstachtenden Umgang mit der eigenen geschlecht- lichen und/oder sexuellen Identität – in einer Welt, in der alles, was von „der Norm“ abweicht, noch immer viel zu oft verurteilt oder ausgeschlossen wird. Pride-Flaggen sind also mehr als Symbole. Sie feiern queeres Leben, fordern Sichtbarkeit und erinnern an den fortwährenden Kampf um Gleichberechtigung. Seit Jahrzehnten flattern sie auf Christopher Street Days, Demonstrationen und in Social-Media-Feeds: leuchtende Farben, die für Identität, Stolz und Ge- meinschaft stehen. Die erste Regenbogenflagge wurde 1978 in San Fran- cisco gehisst. Seitdem ist ein ganzes Universum an Pride-Flaggen entstanden – für unterschiedliche se- xuelle Orientierungen, geschlechtliche Identitäten und queere Lebensrealitäten. Über 40 verschiedene De- signs gibt es mittlerweile – und jede Flagge erzählt ihre eigene Geschichte. m o c . l h s a p s n u - r e t n e R l e a h p a R : d l i B 70 Good News Magazin
Was bedeutet eigentlich…? (Eine kleine Begriffsklärung für alle, die dazulernen wollen.) • Pride: Englisch für „Stolz“. Gemeint ist der selbst- bewusste, würdevolle Umgang mit der eigenen Identität – als Gegenentwurf zu Scham und Aus- grenzung. Der Begriff wurde zur Symbolfigur für queere Emanzipationsbewegungen weltweit. • Queer: Ein Sammelbegriff für Menschen, deren sexuelle Orientierung oder Geschlechtsidentität nicht der Heteronorm entspricht. Ursprünglich ein Schimpfwort, heute ein selbstbestimmter, stolzer Begriff vieler aus der Community. • LGBTQIA+ ist ein Akronym für: Lesbisch, Gay (schwul), Bisexuell, Trans, Queer oder Questio- ning (fragend), Inter, Asexuell oder Agender und + (oder *) für alle weiteren Identitäten, die nicht ex- plizit genannt sind. • Nicht-binär: Eine Person, die sich weder (aus- schließlich) als Mann noch als Frau identifiziert. Nicht-binäre Menschen können sich zwischen, jenseits oder außerhalb des binären Geschlechter- systems verorten – oder es ganz ablehnen. • Cis: Kurzform von „cisgeschlechtlich“. Eine cis Person wurde bei der Geburt einem Geschlecht zu- gewiesen – und identifiziert sich auch damit. In vielen Gesellschaften gilt das als gesellschaftliche Norm – im Unterschied zu trans Personen, deren Geschlechtsidentität nicht mit dem bei Geburt zu- gewiesenen Geschlecht übereinstimmt. • Polyamor: Bezeichnet die Möglichkeit, mehrere einvernehmliche (romantische) Liebesbeziehun- gen gleichzeitig zu führen – offen, ehrlich und mit Zustimmung aller Beteiligten. Polyamorie ist eine Beziehungsform, keine sexuelle Orientierung. • Heteronorm(ativität): Die gesellschaftliche Annahme, dass es nur zwei Geschlechter gäbe – und dass Menschen sich „typisch männlich“ oder „typisch weiblich“ verhalten und heterosexuell seien. Diese Vorstellung blendet viele Identitäten aus und erzeugt Druck und Ausschluss. Ein ausführliches Glossar mit vielen weiteren Begriffen findest Du auf queer-lexikon.net: Du musst nicht alles wissen, um solidarisch zu sein. Aber ein bisschen Verstehen hilft beim Mitfühlen. Die ursprüngliche Regenbogenflagge von Gilbert Baker (1978) Sie ist der Ursprung aller Pride-Flaggen – und bis heute ihr Herzstück: Die Regenbogenflagge, 1978 entworfen vom US-Künstler, Aktivisten und Drag- Performer Gilbert Baker, sollte ein kraftvolles Zei- chen für queeren Stolz sein. Inspiriert wurde Baker von Harvey Milk, einem der ersten offen schwulen Politiker in den USA, der ihn bat, ein neues Symbol für die LGBTQ+-Community zu schaffen – jenseits von Scham, Angst oder Anpassung. Die erste Version, gehisst bei der Pride Parade in San Francisco, bestand aus acht Farben, jede mit einer symbolischen Bedeutung: Hot Pink (Sexualität), Rot (Leben), Orange (Heilung), Gelb (Sonnenlicht), Grün (Natur), Türkis (Kunst), Indigo (Harmonie) und Violett (Geist). Bald musste das Design aus praktischen Grün- den angepasst werden, denn das von Gilbert Baker selbst hergestellte „Hot Pink“ konnte nicht industriell gefertigt werden. Türkis und Indigo wurden zu Königs- blau zusammengeführt. So entstand die heute weltweit bekannte Sechs-Farben-Variante. Die Regenbogenflagge steht seitdem für bedingungs- lose Liebe, universelle Menschlichkeit und die Schön- heit von Vielfalt, ganz ohne Einschränkungen. Sie ist nicht auf bestimmte Identitäten begrenzt, sondern schließt alle Menschen ein, die sich für Gleichberech- tigung und Selbstbestimmung stark machen – ob queer oder nicht. Ihre Botschaft: Liebe ist für alle. Ein besonderes Merkmal: Anders als spätere Pride- Flaggen unterliegt Bakers Design ganz bewusst keinem Copyright. Denn für ihn war die Regenbogenflagge ein Geschenk an die Welt, das nicht vereinnahmt, sondern geteilt werden sollte – als Zeichen von Hoffnung, Wi- derstandskraft und inklusiver Gemeinschaft. „1978 war das einzige internationale Symbol für uns das pinke Dreieck, das die Nazis genutzt hatten, um homosexuelle Menschen in den Konzentrationslagern zu kennzeichnen. Obwohl das pinke Dreieck ein starkes Symbol war und ist, wurde es uns aufgezwungen. Die Regenbogenflagge ist ein Symbol der Freiheit und Befreiung, das wir selbst gestaltet haben, für uns. Es ist ein Symbol, das uns verbindet.“ Gilbert Baker Good News Magazin 71
Bis heute ist die klassische Pride-Flagge auf Demons- trationen, Balkonen, Schultaschen und Stadtplätzen zu sehen – und erinnert uns daran, dass Vielfalt keine Modeerscheinung ist, sondern ein Menschenrecht. Sie ist nicht nur die erste Pride-Flagge – sondern auch die universellste: In ihr steckt der Ursprung aller späteren Symbole. Die Progress Pride Flag (ab 2018, bzw. ergänzt ab 2021) Um sichtbar zu machen, dass auch innerhalb queerer Communities nicht alle Menschen gleichgestellt sind, wurde die klassische Regenbogenflagge 2018 erwei- tert. Das neue Design, basierend auf Arbeiten von Da- niel Quasar (2018) und Valentino Vecchietti (2021), er- gänzt auf der linken Seite einen dreieckigen Keil mit Streifen in fünf Farben: Rosa, Hellblau und Weiß ste- hen für trans Identitäten; Braun und Schwarz für BI- PoC-Communities. In der Variante von Vecchietti fin- det sich in dem gelben Dreieck noch ein lila Kreis, welcher für *inter Personen steht. Dabei trägt Schwarz eine zusätzliche Bedeutung für die mit AIDS lebenden Menschen, die nicht mehr le- benden Menschen und das Stigma, das sie umgibt. Das V-förmige Chevron-Symbol weist nach vorne, als Zei- chen für Fortschritt und Inklusion. Die interinklusive Flagge erinnert daran, dass queere Gerechtigkeit intersektional gedacht werden muss – also auch die Menschen erfassen soll, die aufgrund anderer Merkmale wie Herkunft, Religion oder Krank- heit Diskriminierungserfahrungen machen. „Wer in- tersektionale Diskriminierung nicht mitdenkt, riskiert, neue Ausschlüsse in alten Kämpfen zu schaffen“, schreibt die Politologin Emilia Roig. Queerer Aktivismus darf nicht aufhören, wenn die Mehrheit innerhalb der Community Rechte erlangt hat. Nur eine Bewegung, die rassismuskritisch, inklusiv und solidarisch ist, kann wirklich emanzipatorisch sein – so der Gedanke hinter dem Design, das Designer Da- niel Quasar als „Fokus auf Inklusion und Fortschritt innerhalb der Community“ beschreibt. Abkürzung für „Black, Indigenous and People of Color“. Ein solidarischer Sammelbegriff für Menschen, die rassistische Diskriminierung erfahren – oft mehrfach, z. B. als queere BIPoC. Die Begriffe betonen gemeinsame Erfahrungen, nicht Hautfarbe. m o c . s o t o h p t i s o p e d - m o c . l i i a m g @ z u h a n u i i : Im Gegensatz zur klassischen Regenbogenflagge ist die Progress-Pride-Flagge urheberrechtlich ge- schützt, sie steht unter dem Copyright von Daniel Quasar. In manchen Kontexten kann die gezielte Sichtbarmachung einzelner Gruppen – etwa durch die Braun- und Schwarz-Töne – als Fragmentierung oder Ungleichgewicht empfunden werden. Gerade in internationalen Zusammenhängen gilt, dass nicht jede Community dieselben Symbole braucht. Eine Flagge, die einzelne Gruppen innerhalb der queeren Community besonders hervorhebt, wird sich also mit der Zeit wandeln. Was zählt, ist die gemeinsame Bot- schaft: Solidarität schützt Vielfalt. 72 Good News Magazin d l i B m o c . s o t o h p t i i s o p e d - g n K s n e L a d e M i : d l i B
Die Transgender-Flagge (seit 1999) Hellblau – Rosa – Weiß – Rosa – Hellblau: Die Trans- Flagge wurde 1999 von der US-amerikanischen Akti- vistin und Navy-Veteranin Monica Helms entworfen. Das Design ist bewusst einfach, aber tief bedeutungs- voll: Hellblau steht für das traditionelle „Jungen“-Ge- schlecht, Rosa für das „Mädchen“-Geschlecht. Weiß symbolisiert Menschen, die nicht-binär, interge- schlechtlich oder in Transition sind – also etwa eine Hormontherapie beginnen, operative Maßnahmen er- greifen oder ihren Geschlechtseintrag ändern. Helms beschreibt ihre Idee so: „Es ist egal, wie wir die Flagge drehen, es ist immer richtig herum – was bedeutet, dass wir in unseren Leben das Richtige finden.“ Die symmetrische Anordnung der Farben ist dabei nicht nur grafisch, sondern politisch: Es gibt kein „falsch herum“ – und auch kein „falsch sein“. Jede Iden- tität ist richtig, genauso wie sie ist. Denn es muss nicht Blau oder Rosa sein, nicht eindeutig „männlich“ oder „weiblich“. Es darf ebenso gut ein Dazwischen sein, ein Darüberhinaus, ein ganz eigenes Erleben von Ge- schlecht auch jenseits gesellschaftlicher Erwartungen. In einer Zeit, in der trans Menschen weltweit vermehrt unter Druck geraten, gewinnt diese Flagge an Bedeu- tung. Sie steht für Sichtbarkeit, Selbstbestimmung und Schutzräume. Und sie erinnert uns an ein grundlegen- des Menschenrecht: das Recht, die eigene Identität leben zu dürfen – ohne Angst, ohne Erklärungspflicht, ohne Anfeindung. Dazu wieder Helms: „Diese Farben werden NICHT verblassen. Diejenigen, die uns daran hindern wollen, Gleichberechtigung zu erlangen, wer- den dies bald genug verstehen“ Die Flagge für heterosexuelle Verbündete (Straight Allies) Diese Flagge erinnert daran, dass queere Rechte nicht nur queere Menschen betreffen, sondern uns alle. Sie zeigt ein großes, regenbogenfarbenes „A“ auf schwarz- weiß gestreiftem Grund: Die Streifen stehen für die Heteronorm, das „A“ für „Ally“ (Verbündete*r). Allies sind Menschen, die den heteronormativen Vor- stellungen der Gesellschaft entsprechen – also bei- spielsweise heterosexuelle und cisgeschlechtliche Per- sonen – und sich solidarisch für die Rechte queerer Menschen einsetzen. Ally sein kann vieles bedeuten: sich über die Lebensrealitäten queerer Menschen zu informieren, Diskriminierung im eigenen Umfeld offen anzusprechen oder aktivistisch tätig zu werden. Wich- tig dabei ist, sich der eigenen gesellschaftlichen Privile- gien bewusst zu sein. Dazu zählt beispielsweise schon, nicht wegen der eigenen Geschlechtsidentität oder Se- xualität ausgegrenzt oder angefeindet zu werden. Was für viele selbstverständlich klingt, ist für viele queere Menschen Realität: Zwei Drittel aller trans Per- sonen erleben laut Antidiskriminierungsstelle des Bun- des Anfeindungen oder Herabwürdigungen am Arbeits- platz. Genau deshalb ist sichtbare Solidarität so wichtig. Gerade in Zeiten, in denen queere Rechte wieder ver- mehrt unter Druck geraten, ist Allianzenbildung wich- tiger denn je. Denn: Vielfalt ist kein Trend, sondern demokratischer Auftrag. Wer sich einmischt, schützt nicht nur andere, sondern auch die Grundwerte einer offenen Gesellschaft. Dafür steht die Ally-Flagge. Genau wie alle Pride-Flaggen ist sie Zeichen von Hoffnung – und Mahnung, dass Gleichberechtigung erkämpft, geschützt und vertei- digt werden muss. Wer Farbe bekennt, erkennt das an. Und zeigt nicht nur Flagge – sondern Haltung. Good News Magazin 73 m o c . s o t o h p t i s o p e d - e v i t a e r C p o r D k n I : d l i B
F l a g g e n - Q u i z : W i e g u t k e n n s t D u D i c h a u s ? Pride ist bunt – und manchmal auch ein bisschen un- übersichtlich. Zwischen all den Farben, Streifen und Symbolen verliert man schnell den Überblick. Teste Dein Flaggen-Wissen mit unserem kleinen Pride-Quiz! Welche Flagge ist gemeint? 1. Fünf horizontale Streifen in Hellblau, Rosa und Weiß – und es gibt kein „falsch herum“. a) Intersex-Flagge b) Trans*-Flagge c) Genderqueer-Flagge 2. Ein regenbogenfarbenes „A“ auf schwarz-weißem Hintergrund – ein klares Zeichen für Solidarität. a) Flagge für Allies b) Ace-Pride-Flagge c) Aromantische Flagge 3. Sechs Farben, keine Symbole, aber mit großer Geschichte – und für alle frei verwendbar. a) Progress-Pride-Flagge b) Regenbogenflagge von Gilbert Baker c) Lederflagge 4. Sie ergänzt die klassische Regenbogen- flagge um ein Dreieck – mit Rosa, Hellblau, Weiß, Braun und Schwarz. a) Pansexual-Pride-Flagge b) Progress-Pride-Flagge c) Queerplatonic-Flagge 5. Diese Flagge steht für Menschen, die sich nicht über Geschlecht definieren – ihre Farben sind oft grün, weiß, grau und schwarz. a) Agender-Flagge b) Nonbinary-Flagge c) Genderfluid-Flagge Auflösung & Begriffserklärungen: falls nicht-binäre Identitäten. Nonbinary und genderfluid bezeichnen eben- leben – oder sich keiner zugehörig fühlen. Agender bedeutet: ohne Geschlechtsidentität 5a – Agender-Flagge von männlich/weiblich. unabhängig vom Geschlecht – also jenseits Pansexualität (a) bezeichnet eine Anziehung um Farben für trans Menschen und BIPoC. Sie erweitert die klassische Regenbogenflagge 4b – Progress-Pride-Flagge die BDSM- und Fetisch-Community. Liebe und Vielfalt. Die Lederflagge (c) steht für verwendbar und symbolisiert bedingungslose Das Original aller Pride-Flaggen. Sie ist frei 3b – Regenbogenflagge von Gilbert Baker xuelles Verlangen verspüren. xuell – also Menschen, die wenig oder kein se- für queere Rechte einsetzen. Ace steht für ase- schlechtliche Menschen, die sich solidarisch „Allies“ sind heterosexuelle und/oder cisge- 2a – Flagge für Allies lich“ einzuordnen. logisch nicht eindeutig „männlich“ oder „weib- geschlechtliche Menschen hingegen sind bio- das ihnen bei Geburt zugewiesen wurde. Inter- sich mit einem anderen Geschlecht als dem, schlechtlich. Trans Menschen identifizieren Wichtig: Trans ist nicht dasselbe wie interge- Sie steht für transgeschlechtliche Menschen. 1b – Trans-Flagge* m o c . s o t o h p t i s o p e d - m o c . l i a m g @ u p e h a m o j : d l i B 74 Good News Magazin
Kleine, große Liebesgeschichten aus der Tierwelt Fünfmal „einfach schön“ Es gibt so viele Aspekte, Assoziationen und Erfahrungen bei diesem großen Thema Liebe. Da wird es nun höchste Zeit für ein bisschen Flausch! Einfach mal „was Schönes“ lesen – das sollt ihr in diesem Artikel. Dafür schauen wir in die Tierwelt und lassen uns von diesen wahren Kurzge- schichten das Herz erwärmen – und vielleicht können sie auch inspirieren. Lucia Oiro Es war einmal … m o c . s o t o h p t i s o p e d - t i m k n a v I : d l i B Der Storch, der immer wieder kam Im Osten Kroatiens fand vor 29 Jahren der Hausmeis- ter Stjepan Vokić ein verletztes Storchenkind. Er ret- tete ihr das Leben und nannte sie liebevoll Malena (die Kleine). Fortan lebte Malena bei Stjepan. Da sie auf- grund der Verletzung nicht fliegen konnte, blieb sie das ganze Jahr bei ihm und war ganz auf ihren Ziehvater angewiesen. Stjepan kümmerte sich hingebungsvoll um sie. Er baute ein Nest auf dem Dach seines Hauses, richtete im Winter eine beheizte Garage ein, fischte für sie und begleitete sie durch die kalten Monate. 2002 lernte Malena Klepetan kennen, einen Storchenmann. Die beiden verbrachten von da an jeden Sommer zusammen. Im Winter flog Klepetan nach Südafrika, kehrte jedoch immer wieder zu seiner Malena zurück – 13.000 Kilometer. Jahr für Jahr war das Wiedersehen ein Ereignis: Wenn Klepetan im Frühjahr landete, empfing ihn Malena und Stjepan Vokić rief bereits zur Begrüßung: „Das ist Klepetan!“ – Oft kam er auf den Fisch-Eimer zu, den Vokić bereitgestellt hatte. Ge- meinsam zogen sie mehrere Storchenkinder groß. Ei- nige Quellen berichten von über 50 Jungtieren, denen Klepetan das Fliegen beibrachte. 2021 starb Malena. Klepetan lernte eine neue Störchin kennen, doch er besucht Malenas Grab unter einem Apfelbaum in Vokićs Garten auch heute noch. Good News Magazin 75
0 . 2 Y B C C : r e d l i B c n I i n o i t u b i r t s D w o d a h S : d l i B Der Weise und der Junge Owen, ein junges Flusspferd, war nach einer verhee- renden Flutkatastrophe im Dezember 2004 in Kenia von seiner Herde getrennt worden. Helfer:innen brachten das verängstigte Jungtier in den Haller Park, wo es zunächst allein war – bis Owen auf Mzee traf. Der Name Mzee bedeutet auf Kiswahili „der Weise“ oder „der Alte“ – und das passte: Die Schildkröte war über 100 Jahre alt und gewohnt, ihre Ruhe zu haben. Doch Owen suchte Nähe. Anfangs zeigte sich Mzee zurückhaltend, sogar leicht genervt von der Aufmerk- samkeit des jungen Hippos. Doch mit der Zeit geschah etwas Erstaunliches: Die beiden begannen, sich Seite an Seite zu bewegen, gemeinsam zu ruhen und aufein- ander zu reagieren. Jenseits aller biologischen Gren- zen entstand eine Freundschaft. Als Owen dann im Laufe der Jahre größer wurde und seine verspielte Kraft für die alte Schildkröte zu viel wurde, beschlos- sen die Pfleger:innen, die beiden zu trennen. Owen traf daraufhin auf ein junges Weibchen namens Cleo, mit der er bis heute zusammen ist. Mzee lebt nun wieder allein – doch vergessen haben sich die beiden Wegge- fährten sicher nicht. Eine große bunte Familie Läuft man durch die Straßen von San Francisco wird es häufig mal sehr laut und nein, nicht (nur) wegen der Lautstärke des Verkehrs, sondern wegen eines großen, wilden Papageienschwarms. Für lange Zeit florierte der Handel mit exotischen Tieren in den USA. Doch einige Besitzer:innen waren überfordert mit ihren neuen Haustieren. Besonders Papageien sind bekannt dafür, dass sie sehr laut sind und viel Dreck machen können. Außerdem lernen sie nur zu „sprechen“ (oder eher schreien), wenn sie einsam sind. In der Natur sind sie nämlich in Schwärmen und als Paare unterwegs. Haben sich einmal Zwei gefunden, sind sie einander ein Leben lang treu verbunden. So kam es, dass viele Papageien ausgesetzt wurden oder teilweise auch ihren Besitzer:innen entflohen. In San Francisco schlossen sie sich zu einer bunten Gruppe zusammen. Hauptsächlich handelt es sich dabei um Rothauptsitti- che (Red-masked Parakeets), aber auch andere Arten wie Mönchssittiche oder Amazonenpapageien. tauchten Die ersten freilebenden Papa- geien vermutlich Ende der 1980er, und 2003 machte die Dokumentation The Wild Parrots of Telegraph Hill die außergewöhnliche Ge- meinschaft weltbekannt. Die Vögel haben sogar eine Art eigenen Dialekt entwickelt: Ihre Rufe und Schreie inner- halb der Gemeinschaft unterscheiden sich von ande- ren Papageien und variieren je nach Kleingruppe. Die gegenseitige Fürsorge steht dabei an erster Stelle: Wenn ein Tier oder ein Paar krank ist, kümmert sich die Gruppe umeinander – auch tagelang. Fazit: Egal mit welcher Sprache oder welchem Haushalt man ent- flog – Familie kann man sich auch aussuchen. 76 Good News Magazin
y e n d y S e f i L a e S : d l i B m o c . s o t o h p t i s o p e d - g r o . r a e b t s o h g @ l l i j : r e d l i B Die Pinguin-Papas Im SEA LIFE Sydney Aquarium wurden die beiden männlichen Eselspinguine Sphen und Magic weltweit bekannt, als sie 2018 gemeinsam ihr erstes Küken aus- brüteten und die Pflege übernahmen. Das Aquarium erklärte damals, dass die beiden Vögel auffielen, weil sie stets zusammen watschelten, gemeinsam schwam- men und sogar ein Nest aus Steinen bauten. Zunächst legten die Pfleger ihnen ein unechtes Ei ins Nest, um zu testen, ob sie sich darum kümmern würden. Nach- dem sie diese Aufgabe meisterten, erhielten sie ein echtes Ei. Ihr Küken, liebevoll „Sphengic“ genannt, wurde am 19. Oktober 2018 geboren und wog beim Schlüpfen nur 91 Gramm. Ein zweites Küken kam im Jahr 2020 zur Welt. Sphen und Magic wechselten sich bei der Betreuung ab. So ist es immer bei Pinguinen, sie teilen die Betreuung ihres Nachwuchs gleich auf. Sphen und Magic zeigten das gleiche Brutverhalten wie ein männlich-weibliches Paar. Gleichgeschlechtli- che Paare sind bei Pinguinen übrigens nicht unge- wöhnlich. 2024 verstarb Sphen im August im Alter von 12 Jahren. Magic reagierte mit Gesängen, die von der gesamten Pinguin-Kolonie aufgegriffen wurden. Ein neues Leben in Freiheit zusammen Amelia und Meimo sind ehemalige „Restaurant-Bären“, die im Januar 2019 gemeinsam aus Albanien gerettet wurden. Zuvor hatten sie getrennt in kleinen Betonge- hegen neben einem Restaurant gelebt, wo sie als At- traktion für Besucher:innen eingesetzt wurden. Glück- licherweise erkannte der Besitzer, dass diese Bedin- gungen alles andere als artgerecht waren und stimmte einer Rettung durch die Tierschutzorganisation Vier Pfoten (FOUR PAWS) zu. Heute leben die beiden le- benslangen Partner im Arosa Bärenland, einem Schutz- und Begegnungszentrum für Braunbären in den Schweizer Alpen. Das Bärenland liegt auf etwa 2.000 Metern Höhe im Kanton Graubünden, eingebet- tet in eine alpine Landschaft aus Wäldern, Wiesen, Bä- chen und Felsen. Auf rund 2,8 Hektar finden die ge- retteten Bären großzügige, naturnahe Gehege, Rück- zugsplätze und artgerechte Lebensbedingungen. Ame- lia und Meimo sind ein ungleiches, aber unzertrennli- ches Paar. Amelia ist neugierig, lebhaft und erkundet ihr Gehege seit Ankunft begeistert, während Meimo eher zurückhaltend ist, tagsüber viel schläft und seine Ausflüge in die Nacht verlegt. Trotz dieser Unterschiede halten die beiden engen Kontakt – so sehr, dass sie so- gar gemeinsam Winterschlaf halten. Meimo sorgt dabei für das Polstern der Höhle mit Sägemehl und Stroh, und Amelia kuschelt sich anschließend an ihn. Über die Webcams des Bärenlands können Besucher:innen die beiden im Winterschlaf beobachten – ein berührender Moment, wenn man bedenkt, dass sie früher nicht ein- mal nebeneinander ruhen konnten. Good News Magazin 77
Sich selbst zumuten Fidel Strub über den steinigen Weg zur Selbstliebe Er überlebte die aggressive Erkran- kung Noma, wurde vom TIMES Magazine als eine der 100 wich- tigsten Persönlichkeiten im Be- reich Gesundheit ausgezeichnet und kennt die Hürden auf dem Weg zur Selbstakzeptanz. Im Gespräch erzählt Fidel Strub, was Gesundheit mit Selbstliebe zu tun hat und was es bedeutet, die eigene Zumutbarkeit herauszufinden. Luisa Vogt b u r t S l e d F i : d l i B Als ich mit Fidel Strub über sein aktuelles Projekt spreche, leuchten seine Augen auf. Er möchte die erste Beratungsfirma für patient:innengeführte Kommunikation in der Schweiz aufbauen, er- klärt er mir. Damit „Betroffene chronischer Krankheiten selbst über ihre Erfahrungen sprechen können und damit die Entscheidun- gen in Medizin und Pharma mitbestimmen“. Zusätzlich zu diesem Projekt setzt sich Fidel Strub für mentale Gesundheit ein, ist Vor- standsmitglied der NOMA HILFE SCHWEIZ und arbeitet als Diversity Model bei der Berli- ner Agentur Diversecity Model, die nicht nur Menschen mit gesellschaftlichem Schönheits- standard für ihre Kampagnen einstellt. Eine außergewöhnliche, aber sinnvolle Palette an Verantwortungsbereichen, denn sie passt zu seinem ebenso außergewöhnlichen Lebens- weg. Fidel Strub erkrankte als kleines Kind an Noma, wurde in der Schweiz behandelt und wuchs schließlich dort bei Adoptiveltern auf. Für seinen Einsatz für Überlebende von Noma und die bessere Anerkennung und 78 Good News Magazin
TIMES Magazine zu einem der Top 100 wichtigsten Menschen im Bereich Gesundheit gekürt, neben Per- sonen wie der Schauspielerin Halle Berry oder dem ehemaligen US-Präsidenten Richard Carter. Eine enorme Auszeichnung, sicher, aber: „Ich bin immer noch derselbe Fidel“, erklärt Fidel Strub la- chend. Ein offener, warmherziger, lustiger Mensch, der mir mit seinem Lächeln und seinem schweizer Dialekt sofort jede Scheu nimmt. Seine Bescheiden- heit kommt vielleicht auch daher, dass er trotz der Erfolge auch Tiefpunkte erlebt hat – und das zum Teil sehr intensiv. „Ich habe nach wie vor große Selbst- zweifel“, räumt er unumwunden ein. Dass er sich trotz dieser Zweifel immer wieder neuen Herausforderungen stellt und sich voller Begeiste- rung an neue Projekte wagt, ist für ihn die größte Be- stätigung an sich selbst, erklärt er mir: Das ist eine Form von Selbstliebe, die ich mir gebe: Die Zumutung, dass ich etwas kann. Mehr als eine Diagnose, mehr als eine Zahl Eine solche „Zumutung“ ist sein aktuelles Projekt, seine Firma Ethos Fidelis und das Fidel Strub Forum. Warum es ihm so am Herzen liegt, ist schnell erklärt: Patient:innen chronischer Krankheiten sind auf den Gesundheitssektor angewiesen. „Wir müssen Ärzt:in- nen und Pharma vertrauen“, erklärt Fidel Strub, „aber es braucht nur eine schlechte Erfahrung, um das Ver- trauen zu zerstören – oder den Eindruck, dass ich für Pharma nur eine Zahl bin“. Mit ernsten Konsequenzen. Denn Betroffene, die den Glauben an das Gesund- heitssystem verlieren, verzichten auf Behandlungen, die unter Umständen lebensrettend wären. Er selbst hat reichlich Erfahrung mit dem Gesund- heitssystem. 28 Operationen hat der heute 34-jährige hinter sich, die meisten im Kindesalter. An die chronischen Schmerzen, die geblieben sind, hat er sich größtenteils gewöhnt. Doch immer wieder gibt es Zeiten, in denen sie in stärkeren Wellen kommen und die Tage „mühsam“ machen. Die Krankheit, die das verursacht hat, trägt den Na- men Noma – eine aggressive Erkrankung, bei der sich Bakterien ausgehend vom Mund im Gesicht ausbreiten und das Gewebe, die Muskeln und sogar die Knochen angreifen. Kind „immer wieder herausgerettet“ Fidel Strub war drei Jahre alt, als er an Noma erkrankte. „Es begann mit einem Stechen in der Backe“, erinnert er sich heute zurück, binnen kurzer Zeit begleitet von Fieber und „kochenden Kopfschmerzen“. Einzige Er- leichterung bot der kühle Steinboden, auf dem er sich hin- und her rollte, um die Schmerzen zu stillen – „bis ich auch zu schwach war zum Rollen“. Unbehandelt verläuft Noma in 90 Prozent aller Fälle tödlich – dabei wäre die Krankheit mit Antibiotika und Hygienemaßnahmen eigentlich gut behandelbar. Was fehlt, sind vielerorts noch immer medizinisches Wissen und Infrastruktur. So war es letztendlich ein Glücksfall, dass es in Burkina Faso, wo Fidel Strub geboren wurde, einen einzigen Arzt gab, der ausgebildet war, um Noma- Patient:innen zu behandeln. Seine Großmutter hörte im Radio den Aufruf der Schweizer Stiftung Sentinelles, die begonnen hatte, ein- heimische Ärzt:innen zur Behandlung von Noma auszu- bilden, Kinder „mit einem Loch in der Backe“ zu diesem Noma tritt fast ausschließlich in Kontexten von Armut und mangelnder Hygiene auf, besonders häufig in Ländern Afrikas, Südamerikas und Asiens. Besonders häufig erkranken Kinder zwischen zwei und sechs Jahren. „Schät- zungsweise 90 Prozent der Betroffenen sterben innerhalb weniger Wochen. Die Überlebenden bleiben mit schwe- ren Verletzungen zurück, die ihnen das Essen, Sprechen, Sehen oder Atmen erschweren. Darüber hinaus sind sie aufgrund ihrer Entstellung oft Stigmatisierung ausgesetzt.“, heißt es auf der Website von Elysium, der ersten Or- ganisation Noma-Überlebender. Durch Aufklärung und besseren Zugang zur Gesundheitsversorgung könnte die Sterblichkeitsrate nach Schätzung der World Health Organisation (WHO) drastisch gesenkt werden, denn bei frühzeitiger Erkennung kann Noma durch Mundhygiene und Antibiotika erfolgreich behandelt werden. b u r t S l e d F i : d l i B Good News Magazin 79
Arzt zu bringen. Kurzerhand stieg sie mit dem Jungen in den Bus. Nach einer mehr als halbtägigen Busfahrt er- reichten sie die Arztpraxis im Norden des Landes. Zwei Wochen kämpfte der Arzt um Fidel Strubs Über- leben, bis sich sein Zustand schließlich stabilisierte. Doch für die notwendigen Operationen in der Schweiz war er noch zu jung, Fidel Strub wurde zu- nächst zurück zu seinen Eltern geschickt. Fehlendes Geld und mangelnde Hygiene bedeuteten, dass man ihn „immer wieder aus der Situation herausretten“ musste. Die Wunden, die Noma geschlagen hatte, mussten weiter behandelt werden. In einer Familie mit insgesamt elf Geschwistern konnten sich seine Eltern die Versorgung nicht leisten, zwischenzeitlich kam Fidel Strub ins Waisenhaus. Letztendlich gelang jedoch durch die Zusammen- arbeit mit der Schweizer Organisation der Transfer in die Schweiz. In den darauffolgenden Jahren wurden immer wieder Eingriffe vorgenommen, um Muskula- tur und Gewebe zu rekonstruieren und Fidel Strub das Gesicht zu geben, das er heute hat. Von Burkina Faso in die Schweiz In der Zeit in der Schweiz lernte er die junge Ärztin Christina Strub kennen. Aus irgendeinem Grund konnte er sich ihr Gesicht unter all den vielen neuen Gesichtern und weißen Kitteln im Krankenhaus mer- ken. Zwischen den beiden entwickelte sich eine enge Bindung. So eng, dass Christina Strub den Jungen vier Jahre später zu sich in die Schweiz holte. „Meine Mutter sagt eigentlich immer, ich hätte sie adop- tiert“, erzählt Fidel Strub und lächelt. „Als sie mich näm- lich einmal in Burkina Faso besucht hatte, war ich im Kinderheim, weil meine biologischen Eltern nicht das Geld und die Mittel hatten, mich zu betreuen. Da habe ich sie gefragt, wann ich in die Schweiz zurück kann.“ So landete der siebenjährige Fidel in der Schweiz, zu- nächst in Genf, nach einem Jahr zog die Familie nach Basel. „Ich musste dann relativ schnell Schweizer- deutsch lernen“, erinnert er sich mit einem Lachen. Die Umstellung fiel ihm nicht schwer: Burkina Faso war der Ort, an dem es ihm nicht gut ging. In der Schweiz gab es genug zu Essen und Menschen, die sich um ihn kümmerten. So gewöhnte er sich schnell ein. Auch in der Schule und vom sozialen Umfeld wurde er schnell akzeptiert. „Die Kindheit war, abgesehen von den An- fängen, eigentlich schön“, sagt er heute rückblickend. Schwierig sei es dann in der Pubertät geworden: „Als Ju- gendlicher ist es sowieso schon schwierig, dann ist man auch noch adoptiert, da hat man natürlich viele Fragen. Wer bin ich? Woher komme ich? Warum bin ich hier?“ 80 Good News Magazin Selbstakzeptanz als einzige Option Dazu kam das wachsende Bewusstsein für gesell- schaftliche Schönheitsideale. „Zu realisieren, dass man dem nicht entspricht, das hat mich sehr beschäf- tigt“, berichtet er. Es sei eine Zeit gewesen, in der er sich selbst „durch alle Schichten nicht gerne gemocht“ habe. Eine schwierige Zeit nicht nur für ihn, sondern auch für sein Umfeld, das er nicht an sich heran ließ. Lange versuchte er, alles mit sich selbst auszumachen. Ein entscheidender Wendepunkt kam, als er 2014, im Alter von 23 Jahren, nach einem Suizidversuch im Krankenhaus landete. b u r t S l e d F i : r e d l i B „Eine der ersten Sachen, die fast alle Freund:innen gemacht haben, die mir dann geschrieben und mich besucht haben, war mich zusammenzustauchen“, erinnert sich Fidel Strub, „also im Sinne von: ‚Was soll der Scheiß? Das beschäftigt uns ja auch!‘“ Erst da sei ihm bewusst geworden, wie vielen Menschen er etwas bedeutete.
Wie viel ich anderen durch meine Art geholfen habe, wie viel Wirkung und positiven Effekt ich auf die Menschen um mich herum hatte, wurde mir erst dann gesagt. So habe ich realisiert: Ich habe doch eine Rolle hier in der Gesellschaft. Dennoch dauerte es eine Weile, bis er sich selbst und sein Aussehen mehr oder weniger akzeptieren konnte. „Blöd gesagt: eine andere Option hab ich nicht“, erklärt er mit einem ironischen, aber aufrichtigen Lachen. „Ich habe also versucht, mich selbst zu akzeptieren, was größtenteils auch klappt. Ich sage es allerdings auch immer wieder: Ich habe keine Spiegel außer im Bade- zimmer. In den Spiegel schauen, das ist etwas, das ich einfach nicht gerne mache.“ Erfolgreicher Einsatz für Noma-Überlebende Mit dem Entschluss, die Wut, die er lange in sich ge- tragen hatte, hinter sich zu lassen und nach vorne zu schauen, kam gleichzeitig der Gedanke, sich mit der Krankheit auseinanderzusetzen, die sein Leben so veränderte und deren extensive Folgen er noch im- mer sieht und spürt. Er wurde Mitglied der NOMA- HILFE-SCHWEIZ und begann, sich dafür stark zu machen, dass die Krankheit größere Anerkennung und Sichtbarkeit erhält. „Ich habe mich immer gefragt, warum die WHO nichts macht“, erklärt er, „also dachte ich mir: Ich mache mal was“. So nonchalant er ihn formuliert, so beeindruckend sind die Auswirkungen dieses Vorsatzes. 2021 trifft Fidel Strub bei der World Health Assembly in Genf Mulikat Okanlawon, ebenfalls Noma-Überlebende. Im Novem- ber 2022 rufen sie gemeinsam Elysium ins Leben, eine Nichtregierungsorganisation, die die Interessen von Noma-Überlebenden vertritt. Hinter Regierungstüren, auf Social Media und auf Veranstaltungen arbeiteten sie dafür, dass Noma auf die Liste der sogenannten „neg- lected tropical diseases“ (NTD), auf deutsch „vernach- lässigte Tropenkrankheiten“ gesetzt wird. Ihr Einsatz zahlt sich aus. 2020 hatten Ärzte ohne Grenzen eine Kampagne zur Einstufung von Noma als NTD angestoßen, im Mai 2021 kündigte die b u r t S l e d F i : d l i B Als einer von fünf ausgewählten Perso- nen hielt Fidel Strub bei der Ehrung der von der TIMES ausgezeichneten 100 einflussreichsten Personen im Be- reich Gesundheit in New York eine Rede. „Das war alles keine Absicht, wir wollten ja nur was bewilligt bekom- men“, lacht er rückblickend. nigerianische Regierung offiziell an, die Kampagne zu- künftig mit Unterstützung von Ärzte ohne Grenzen zu führen. Fidel Strub, Mulikat Okanlawon und weitere Überlebende wurden die Stimmen der Kampagne. Nach dreijährigem Einsatz reichte die nigerianische Regierung Anfang 2023 das Dossier für die Aufnahme von Noma auf die Liste der NTDs ein. Noch im selben Jahr wurde der Antrag anerkannt – Rekordzeit. „Ich hatte mich schon auf einen Zehn-Jahres-Kampf eingestellt“, erzählt Fidel Strub lachend, denn im Nor- malfall werden nur alle zehn Jahre 20 neue Krankhei- ten auf die Liste gesetzt. Dass Noma 2023 als 21. Krankheit aufgenommen wurde, ist ein Ausnahmefall. Ein Zeichen für die Schwere der Krankheit, aber auch eine Bestätigung für die erfolgreiche Vertretung der- jenigen, die sich all die Jahre für mehr Sichtbarkeit von Noma stark gemacht haben. Good News Magazin 81
Von Höhen zu Tiefen und zurück Für Betroffene von Noma bedeutet die Anerkennung, dass sie gesehen und ernst genommen werden, erklärt Fidel Strub. „Es bedeutet, sie sind nicht allein und es gibt ihnen den Mut, weiterzukämpfen. Das ist ja auch die Idee von Elysium, dass Betroffene ihre Stimme kriegen und nicht ihr Dasein als Ausgestoßene führen müssen.“ Er selbst legte allerdings kurz nach der Auszeichnung durch das TIMES-Magazin im Mai 2024 sein Amt bei Elysium nieder. Der Grund: Burnout, Überlastung durch den intensiven ehrenamtlichen Einsatz, die Me- dienanfragen und den Vorzeigestatus, all das neben seiner beruflichen Tätigkeit bei Swissmedic, wo er bis Dezember 2024 arbeitete. Dazu nach dem Erfolg auch die Frage: Was kommt jetzt? Bis er die Kraft fand, sein neues Projekt anzustoßen, dauerte es eine Weile. Dafür ist sein Tatendrang jetzt umso spürbarer. Er ist sich sicher, dass patient:innen- geführte Kommunikation zentral ist, für die Betroffe- nen aber auch für das Vertrauen ins Gesundheitssys- tem. Denn letztendlich geht es um etwas, das alle Pa- tient:innen etwas angeht: darum, dass ihre Emotionen und Erfahrungen ernst genommen werden. Mut fassen, sich zu zeigen Etwas, das für ihn aufgrund seiner eigenen Erfahrun- gen dabei immer mitgedacht werden, wenn nicht so- gar im Zentrum stehen muss, ist die Psyche. Nicht nur, aber gerade bei chronischen Erkrankungen. Der Kör- per sei wie ein Schweizer Uhrwerk, erklärt mir Fidel Strub – und als gelernter Uhrmacher muss er es wis- sen: „Es gibt so viele Einzelteile, die aufeinander ab- gestimmt sind und wenn eines kaputt ist und nicht funktioniert, kann alles stehen bleiben. Wenn etwas hängt oder stockt, zieht sich das durch und landet am Schluss im Bereich mentaler Gesundheit.“ Dabei seien nicht nur die Schmerzen ein Faktor, son- dern auch Ängste, wie die Gesellschaft auf die Krank- heit reagiert. Die vielen Fragen: Wie wird der Arbeit- geber reagieren? Wie reagieren die Arbeitskolleg:in- nen auf meine dauernde Abwesenheit? Werden Men- schen im Umfeld oder gar Psycholog:innen sagen: ‚Jetzt übertreib mal nicht‘? Er selbst hat aus seinen vergangenen Erfahrungen ge- lernt, sich von diesen Ängsten nicht zurückhalten zu lassen. Erst vor kurzem war er in Berlin als Diversity- Model im Einsatz. Damit will er nicht nur Betroffenen von Noma, sondern allen Menschen, die eine sicht- bare oder unsichtbare Behinderung haben, zeigen, dass sie nicht ausgeschlossen sein müssen. Es sei nicht immer einfach, räumt er ein, man müsse sich manch- mal regelrecht durchboxen – „und auf diesem Weg anderen den Mut machen: es ist möglich.“ Andere Menschen denken: Ich bin ja nichts, ich bleibe lieber unsichtbar. Aber ich will Leute dazu bewegen, dass sie sich trauen, sich zu zeigen. Zu sagen: Das ist mein Kampf, und ich bin stolz darauf. Dass es schwer ist, diesen Mut zu fassen, weiß er nur zu gut. Er kennt die Selbstzweifel, die mentale Belastung, die ihn zeitweise bis zum Selbsthass führte. Um Neglected Tropical Diseases (NTDs) Als „Neglected Tropical Diseases“ bezeichnet die WHO eine „vielfätige Gruppe von Erkrankungen, die durch eine Vielzahl von Krankheitserregern verursacht werden und mit verheerenden gesundheitlichen, sozialen und wirtschaftlichen Folgen verbunden sind“. Laut Angaben der WHO waren 2020 circa 1,7 Milliarden Menschen von solchen Erkrankungen betroffen, insbesondere stark von Armut betroffene Bevölkerungsgruppen in Län- dern mit niedrigen und mittleren Einkommen. Mehr als 200.000 Menschen sterben jedes Jahr an NTDs, Millionen müssen aufgrund unzureichender Versorgung und zu hoher Behandlungskosten mit schweren Folgen der Erkrankungen leben. Durch die Einordnung als NTD werden Finanzmittel und Ressourcen für die Forschung und Behandlung der so klassifizierten Krankheiten bereitgestellt. Gleichzeitig steht der Begriff in der Kritik. Die Bezeichnung „vernach- lässigt“ setze die Dringlichkeit und das Ausmaß der Erkrankungen herab, argumentiert auch Fidel Strub. Neuere Forschungen schlagen angelehnt an eine in Äthiopien entwickelte und verwendete Bezeichnung den Begriff „Erkrankungen, die besondere Aufmerksamkeit erfordern“ als Alternative vor. 82 Good News Magazin
dagegen anzugehen, braucht es das Gegenteil: „Wenn die mentale Gesundheit leidet, ist das die Abwesenheit einer Form von Liebe“, meinte Fidel Strub, „darum ist der Einsatz für mentale Gesundheit, ist psychisches Wohlergehen eine Form von Liebe, es ist Selbstliebe.“ Inzwischen bietet er selbst als Teil seiner Arbeit auch Resilienztrainings, Suizidprävention und Fortbildun- gen zu mentaler Ge- sundheit an. Grund- sätzlich brauche es noch deutlich mehr Unterstützungsmög- lichkeiten im Bereich psychische Gesund- heit, fordert er, nicht nur für chronisch kranke Menschen, sondern allge- mein. Denn: „Wenn es uns psychisch gut geht, geht es den Menschen in unserem Umfeld auch eher gut – psy- chische Gesundheit ist gut für die Gesamtgesellschaft.“ Um ernst genommen zu werden, reiche es nicht, wenn Organisationen „für“ Betroffene spre- chen, so Fidel Strub: „Ich will Betroffene chroni- scher Krankheiten mit ins Boot holen, damit sie selbst über ihre Erfahrungen sprechen können und genau das ankommt, was sie sagen wollen.“ b u r t S l e d F i : d l i B Der lange Weg zur Selbstliebe Für ihn selbst, erklärt Fidel Strub, sei Selbstliebe dabei nach wie vor herausfordernd. Er erinnert sich regel- mäßig daran, für sich selbst zu leben, denn „wenn wir immer allen gefallen wollen, vergessen wir am Schluss, zu leben“. Darum hat er sich von den Tätigkeiten zu- rückgezogen, die ihn ausbrannten, darum hat er etwas Neues gewagt. Ein Risiko, denn es ist keinesfalls sicher, dass die neue Geschäftsidee erfolgreich sein wird. Doch selbst wenn nicht: Fidel Strub hat gelernt, das Auf und Ab des Lebens zu akzeptieren – und dabei das Lächeln zu behalten. „Wenn es nicht funktioniert, mache ich es noch einmal und mache es besser. Das Leben besteht daraus, auszu- probieren und die eigene Zumutbarkeit herauszufin- den“, erklärt er. Was das für ihn selbst bedeutet, lässt sich wohl am besten in seinen eigenen Worten sagen: Auch wenn ich nur einen Spiegel in der Wohnung habe – ich schau trotzdem jeden Tag rein. Mit seiner Firma Ethos Fidelis schafft Fidel Strub Beratung für Pharma und Medizintechnik aus Sicht Betroffener und Überlebender, die erste Agentur für patient:innenge- führte Kommunikation in der Schweiz. Über das Fidel Strub Forum bietet er auf Basis seiner Erfahrungen Exper- tise zu Ethik im Gesundheitssektor und globaler Gesundheit sowie Workshops und Mentoring im Bereich mentale Gesundheit. Good News Magazin 83
B e s f o t Good News S h o S h o s s t t In unserer Online-Ausgabe haben wir in den letzten Mona- ten immer wieder von erfreu- lichen Entwicklungen und positiven Nachrichten berichtet. Die Schönsten haben wir euch hier zusammengesucht: David Gaedt US-Online-Apotheke macht wichtiges Leukämie-Medikament bezahlbar Mark Cuban macht Hoffnung für das US-Gesund- heitssystem: Mit seiner Online-Apotheke Cost Plus Drugs senkt er seit 2022 die Medikamentenpreise drastisch – transparent, fair und ohne Zwischen- händler. Jüngster Erfolg: Das Leukämie-Medikament Dasatinib kostet dort nun über 60 Mal weniger als vergleichbare Produkte. Cubans Ziel bleibt einfach und kraftvoll: Jede:r soll Zugang zu sicheren, bezahl- baren Medikamenten haben. goodnews-magazin.de/ leukaemie-medikament-bezahlbar Kleine Geckoart wiederentdeckt Auf der Galápagos-Insel Rábida ist eine Geckoart wiederentdeckt worden, die lange Zeit nur aus rund 5.000 Jahre alten Fossilien bekannt war: Phyllodac- tylus maresi oder Mares’s leaf-toed gecko. Erst Expe- ditionen in den Jahren 2019 und 2021 brachten den Nachweis lebender Exemplare des nach Lodovico Mares benannten Blattfingergeckos. Der Italiener hatte die Expedition, die ursprünglich zur Entde- ckung der Art führte, finanziert. Wissenschaftler:in- nen haben diese Erkenntnis in einer Studie am 13. Juni 2025 im Fachjournal PLOS ONE veröffentlicht. http://goodnews-magazin.de/ kleine-geckoart-auf-rabida-wiederentdeckt Weniger Suizide weltweit – ein Erfolg für Prävention und Aufklärung Eine groß angelegte Analyse der Weltgesundheits- organisation (WHO) und internationaler Forschungs- teams aus dem August 2025 zeigt: Die Zahl der Sui- zide geht seit Jahrzehnten zurück. Weltweit starben Anfang der 1990er Jahre noch etwa zehn von 100.000 Menschen durch Suizid. 2021 lag dieser Wert bei knapp sieben. Das entspricht einem Rückgang um rund ein Drittel. Auch in Europa ist die Entwicklung positiv. Dort sanken die Raten innerhalb der vergan- genen zehn Jahre um etwa 13 Prozent. http://goodnews-magazin.de/ weniger-suizide-auf-der-welt-dank-praevention e d / m o c . s o t o h p t i s o p e d / m o c . e b o d a . k c o t s : d l i B 84 Good News Magazin
Amsterdam baut „Kattentrapjes“ In Amsterdam bekommen Katzen und andere Tiere jetzt Rettungstreppen in den Grachten, die sie sicher ans Ufer bringen und Leben retten. Diese sogenann- ten „Kattentrapjes“ sind Mini-Treppen, die an den hohen, glatten Kaimauern der Grachten angebracht werden. Sie bestehen aus einfachen, sanft ansteigen- den Stufen, die den Tieren den Rückweg aus dem Wasser ermöglichen. So wird verhindert, dass Katzen und andere Kleintiere ertrinken, wenn sie versehent- lich ins Wasser fallen. Schwimmen können Katzen zwar, aber die hohen, glatten Kaimauern machen den Rückweg für sie fast unmöglich. In Amsterdam soll diese Geschichte bald ein Happy End bekommen. http://goodnews-magazin.de/ amsterdam-katzentreppen Multiple Sklerose: Zwei medizinische Durchbrüche geben neue Hoffnung Ein neuer Bluttest der MedUni Wien erkennt Multiple Sklerose (MS) im Schnitt über fünf Jahre vor den ers- ten Symptomen, indem er Autoantikörper gegen ein Epstein-Barr-Virus-Protein nachweist. Werden diese mehrfach gefunden, ist das MS-Risiko deutlich er- höht. Somit könnten Betroffene früh überwacht und eventuell behandelt werden, noch bevor das Nerven- system geschädigt wird. Gleichzeitig zeigt ein neuer Wirkstoff, Tolebrutinib, dass sich der Krankheitsver- lauf auch ohne aktive Entzündungen bremsen lässt – ein wichtiger Fortschritt für viele Patient:innen. http://goodnews-magazin.de/ hoffnung-bei-multiple-sklerose e d / m o c . s o t o h p t i s o p e d / m o c . e b o d a . k c o t s : d l i B Österreichischer Bürgermeister entfernt „defensive Architektur“ Im österreichischen Dornbirn packt der Bürgermeis- ter selbst an und verbannt kurzerhand Trennkeile aus Sitzbänken in seiner Gemeinde. Eine kleine Geste, die gegen Ausgrenzung vor allem wohnungsloser Menschen vorgeht, zeigt neue Wege für einen offenen Stadtraum auf. An vielen Orten zeigen empathischere sozialpolitische Maßnahmen bereits Erfolg – als Al- ternative zur von Expert:innen kritisierten „defensi- ven Architektur“. http://goodnews-magazin.de/ gegen-defensive-architektur Bärin Gaia lebt nun im Schwarzwald Die Bärendame JJ4 ist besser bekannt als ‚Gaia‘. Vor allem aber ist sie die Bärin, „die polarisierte“. 2023 starb der 26-jährige Jogger Andrea Papi im Trentino (Norditalien), nachdem JJ4 ihn im Wald angriff. Der Vorfall wurde zum Medienhype und die Bärin zum Symbol des Freiheitskampfes um die Braunbären in Mitteleuropa. Seit dem 20. Juli 2025 lebt die Bärin im Alternativen Wolf- und Bärenpark Schwarzwald und blieb vor einem Abschuss verschont. http://goodnews-magazin.de /jj4-in-deutschland-baerenmanagement Good News Magazin 85
Wie SEKEM in Ägypten die Wüste begrünt Wirtschaft der Liebe Die Organisation SEKEM hat sich das Ziel gesetzt, die Wüste zu begrünen und nachhaltige Landwirtschaft in Ägypten zu etablieren. Ihre Philosophie trägt den Namen „Economy of Love“ und versucht, neben der Wirtschaft auch Land- wirt:innen zu fördern und die Umwelt zu schützen. Rebecca Wolfer 86 Good News Magazin l s a u g n a Y o r a v A / n n a m r h E c r a M : d l i B
Economy of Love. Seit 2019 können sich Unternehmen und Landwirt:innen nun mit dem Siegel auszeichnen lassen. „Ein Bauer meinte damals zu uns: ‚Was ihr för- dert, ist nicht nur Wirtschaft, sondern eine Wirtschaft der Liebe.‘ „So entstand der Name“, sagt Harm. Beobachten und aus Fehlern lernen SEKEM arbeitet mit tausenden Kleinbäuerinnen und -bauern aus der Region zusammen, die ihre Ernte für die Weiterverarbeitung zuliefern. Einer von ihnen ist Ibrahim, der in der Nähe von Kairo vor allem Orangen anbaut. Seine Farm ist rund einen halben Hektar groß, zwischen den Orangenbäumen wachsen auch Granat- äpfel und Datteln. Die Pflanzen kommen mit wenig Wasser aus, für die Bewässerung nutzt er Grundwasser. Direkt neben dem Feld befindet sich Ibrahims Wohn- haus. Auf dem überdachten Hof liegen Teppiche aus, auf denen er und andere Landwirte aus der Umgebung Platz nehmen. Die Männer und ihre Familien sind von der konventionellen Landwirtschaft auf biodynami- schen Anbau umgestiegen und verzichten seitdem unter anderem auf Pestizide und chemische Dünger. An diesem Tag findet ein kurzes Training mit Ahmed Has- san statt, einem Agraringenieur von SEKEM. Er ermutigt die Bauern, ihre Pflanzen genau zu be- obachten. „Probiert zum Beispiel aus, wie weit ihr die Orangenbäume voneinander pflanzt oder wie viel Kompost ihr einsetzt“, erklärt er. „Dann schaut, wie die Pflanzen unter verschiedenen Bedingungen wachsen. So findet ihr heraus, was für euren Boden am besten funktioniert.“ Die Landwirte berichten anschließend, welche Verän- derungen sie seit dem Umstieg auf biologische Land- wirtschaft beobachtet haben. Ein Bauer erzählt, dass seine Kosten gesunken sind, weil er keinen Dünger mehr kaufen muss. Ein anderer sagt, dass seine Erträge zwar kleiner, die Qualität der Früchte jedoch deutlich besser geworden ist, wodurch er sie zu höheren Preisen verkaufen kann. Ahmed Hassan besucht die Landwirt:innen alle zwei Wochen. „Ich höre zu, wenn sie von ihren Herausfor- derungen oder Erfolgen erzählen, und gebe Tipps für den Anbau“, sagt er. „Oft schauen wir danach gemein- sam einen Film oder ein Fußballspiel. Das stärkt das Vertrauen untereinander und die Gemeinschaft.“ Good News Magazin 87 Justus Harm arbeitet als Direktor der "Economy of Love" bei SEKEM A ls Ibrahim Abouleish 1977 in sein Heimatland Ägypten zurückkehrte, gab es auf dem Stück Land, das er gekauft hatte, vor allem eins: Sand. Etwa eine Stunde Autofahrt von Kairo entfernt gründete er dort das Unternehmen SEKEM. Heute, fast 50 Jahre später, ist von der kargen Wüste nichts mehr zu erken- nen. Auf der SEKEM-Farm wachsen Dattelpalmen, blü- hende Sträucher, Heilkräuter und Olivenbäume. Meh- rere Tochterunternehmen verarbeiten dort Bio-Lebens- mittel, stellen Medikamente oder Kleidung her. Auf dem früher unfruchtbaren Boden befindet sich nun der Sitz einer Organisation, die inzwischen mit mehr als 35.000 Landwirt:innen aus der Region zusammenarbeitet. „Ohne die Vision meines Vaters wäre diese Verände- rung nicht möglich gewesen“, sagt Helmy Abouleish, der nach dessen Tod die Geschäftsführung von SE- KEM übernommen hat. Sein Vater, in Ägypten gebo- ren und in Graz ausgebildet, hatte die Idee, mit biody- namischer Landwirtschaft die Wüste zu begrünen. Der Plan klingt utopisch – doch Schritt für Schritt wuchs SEKEM, kaufte neues Land und pflanzte ge- meinsam mit Landwirt:innen in der Region Bäume und Nutzpflanzen. „Uns geht es nicht nur um Ertrag und wirtschaftlichen Erfolg, sondern auch darum, dass unsere Arbeit ökologisch, kulturell und sozial nachhal- tig ist“, erklärt Helmy Abouleish. Um diese ganzheitli- che Arbeitsweise sichtbar zu machen, entwickelte SEKEM 2019 einen eigenen Zertifizierungsstandard, die „Economy of Love“. „Bisher gab es keine Zertifizierung, die all das abbildete, was uns wichtig ist“, sagt Justus Harm, Direktor der
CO₂-Zertifikate schaffen zusätzliches Einkommen Die Landwirte aus dem Training haben alle die Zertifi- zierung „Economy of Love“ erhalten. Neben der An- erkennung ihrer nachhaltigen und fairen Arbeit ermög- licht das Programm auch den Verkauf von CO₂- Zertifikaten. „Die Idee dahinter ist, dass die biodynami- sche Landwirtschaft durch ihre Artenvielfalt mehr CO₂ speichert, als sie ausstößt“, erklärt Justus Harm. „Ein ausgewachsener Baum speichert je nach Art rund 33 Kilogramm CO₂, eine Tonne Kompost sogar rund 600 Kilogramm pro Jahr.“ Die Berechnungen orientieren sich an den Methoden der United Nations Framework Convention on Climate Change (UNFCCC) und des In- tergovernmental Panel on Climate Change (IPCC). Für jede gespeicherte Tonne CO₂ wird ein Zertifikat ausgestellt. Diese werden über eine Online-Plattform verkauft – vor allem an Organisationen, die ihren eige- nen CO₂-Ausstoß kompensieren möchten. Zu den Käufern zählen unter anderem Weleda, AXA und die Vereinigte Volksbank eG. „Der Kauf von CO₂- Zertifikaten sollte aber kein Freifahrtschein sein, son- dern immer das letzte Mittel, um die Emissionen aus- zugleichen, die die Unternehmen noch nicht vermei- den können“, erklärt Justus Harm. Die SEKEM Farm liegt etwa eine Stunde Autofahrt von Kairo entfernt Die Mitarbeitenden der Economy of Love arbeiten mit mehreren Unternehmen eng zusammen, um deren Treibhausgas-Ausstoß zu messen und Bereiche zu fin- den, in denen Emissionen reduziert werden können. „Ein Beispiel dafür wäre der Energieverbrauch – wir berechnen dann, wie viel CO₂ bei einem Umstieg auf erneuerbare Energien eingespart werden könnte“, sagt er. Die Emissionen der Bereiche, in denen noch kein Umstieg möglich ist, können anschließend mit CO₂-Zertifikaten ausgeglichen werden. Die Zertifikate werden jährlich neu ausgegeben. 80 Prozent der Einnahmen erhalten die Landwirt:innen selbst. Fünf Prozent fließen in einen Fonds, mit dem etwa Schulen in der Region gebaut und betrieben wer- den. Die restlichen 15 Prozent werden für Verwaltung und die Bereitstellung von Bäumen und Kompost ver- wendet. Die Einhaltung der Standards wird regelmä- ßig von der Egyptian Biodynamic Association (EBDA) und dem Carbon Footprint Center überprüft. Die EBDA ist ein Zusammenschluss von biodynami- schen Landwirt:innen in Ägypten, das Carbon Foot- print Center ein Institut an der Heliopolis Universität, das Treibhausgas-Emissionen in der Landwirtschaft und von Unternehmen misst. Beide Organisationen wurden von SEKEM mitbegründet. Um sicherzustel- len, dass ihre Arbeit internationalen Kriterien ent- spricht, werden sie zusätzlich extern evaluiert. 88 Muhammad Algobashy (links) und Ahmed Hassan besuchen die Bäuerinnen und Bauern regelmäßig, um Trainings durchzuführen r e f l o W a c c e b e R / n n a m r h E c r a M t h g i r y p o C _ m r a F M E K E S : d l i B
Helmy Abouleish, CEO von SEKEM und Sohn des Gründers Ibrahim Abouleish Arbeit braucht Liebe „Wir sind stolz auf das, was wir in den letzten Jahren erreicht haben – aber natürlich läuft nicht immer alles nach Plan“, sagt Geschäftsführer Helmy Abouleish. Die Finanzierung des Betriebs von SEKEM und der Eco- nomy of Love bleibe herausfordernd. Die Abwertung des Ägyptischen Pfunds nach der Revolution 2012 habe die Schulden vergrößert, und auch die Umstellung von konventioneller auf biodynamische Landwirtschaft brauche Zeit. „Diese Veränderung passiert nicht über Nacht“, sagt Abouleish. „Wir müssen verstehen, welche Bedürfnisse die Landwirte haben – und dafür braucht es Geduld, Verständnis und vor allem Liebe.“ Biodynamische Landwirtschaft: Die Wirtschaftsweise beruht auf den Ideen Rudolf Steiners. Biodynamisch wirtschaftende Landwirt:in- nen begreifen ihren Hof als einen Organismus, der wie ein Kreislauf funktioniert: Das Land liefert Nahrung für die Tiere, diese wiederum düngen das Land. Der biodynamische Gedanke geht damit über die ökologi- sche Landwirtschaft hinaus, die das Ziel hat, möglichst ressourcen-, klima- und umweltschonend zu sein. In diesem Zusammenhang sind zum Beispiel viele Pesti- zide und Düngemittel verboten, Monokulturen sollen vermieden werden und es gibt Vorgaben für eine art- gerechte Tierhaltung. Biodynamisch arbeitende Landwirte gründeten 1927 den Anbauverband Demeter. Sogenannte „biodynami- sche Präparate“ sind verpflichtend für Höfe, die das Demeter-Siegel tragen. Die Präparate enthalten meis- tens pflanzliche oder tierische Produkte wie Schaf- garbe oder Hirschblase. Einige Präparate mischen die Landwirt:innen mit natürlichem Dünger wie Kompost. Andere verdünnen sie mit Wasser – ähnlich wie homöopathische Mittel – und spritzen sie auf das Feld. Die Wirkung der einzelnen Präparate ist bislang nicht wissenschaftlich belegt. n n a m r h E c r a M : d l i B Die Kritik an der Wirtschaftsweise bezieht sich vor al- lem auf die Anthroposophie, die von Steiner begründet wurde. Die esoterische Weltanschauung behauptet, dass im All und in den Menschen übersinnliche Kräfte, Geister und Engel wirksam seien. Steiner präsentiert Anthroposophie als Wissenschaft, die verbindliche Mitteilungen über „höhere Welten“ machen kann. SEKEM folgt dem Kreislauf-gedanken und dem ganz- heitlichen Ansatz der biodynamischen Landwirtschaft, die erwiesenermaßen zu höherer Resilienz der Böden und mehr Artenvielfalt führt. Rebecca Wolfer arbeitet für den Westdeutschen Förderkreis von Oikocredit. Die Genossenschaft Oikocredit investiert das Geld ihrer Anleger:innen in Partnerorganisationen in Afrika, Asien und Lateinamerika – auch in SEKEM. Dieser Artikel ist im Rahmen einer Oikocredit-Stu- dienreise entstanden. Die vier Dimensionen des Economy-of-Love-Standards SOZIALES: Die Förderung fairer und menschenwür- diger Arbeitsbedingungen, zum Beispiel in Bezug auf Pausenzeiten, Mutterschutz etc. (u.a. in Anlehnung an den Fairtrade-Standard) UMWELT::Die aktive Regeneration der Umwelt durch biodynamische Landwirtschaft und nachhaltige Produktion. WIRTSCHAFT: Eine transparente Wirtschaft, die die Kosten von Produktionspraktiken für Gesellschaft und Umwelt berücksichtigt und faire Löhne zahlt. KULTUR: Die Förderung von lebenslangem Lernen, Wohlbefinden und kreativem Engagement unterein- ander und gegenüber der Gemeinschaft - zum Beispiel durch gemeinsame Musik-Veranstaltungen, Filmabende oder eingeübte Theaterstücke Good News Magazin 89
s u Beis pie l e a d e r Historie der M en s c h h e it i i i . g r o a d e m k w s n o m m o c - l . o P - t n a S i i i b B : d l i B „Queere“ Liebesgeschichte(n) Wie lebten und liebten queere Menschen vor 2000 Jahren? Wer war überhaupt queer und wer nicht? Ein Blick auf die Vielfalt queeren Lebens und Liebens an Beispielen aus der Geschichte weltweit. Florian Vitello Mit weit offenem Hemd, nass vom Regen auf dem Ho- ckey-Feld oder oben ohne in der Sonne posiert Nicolás Keenan auf Instagram. Ein weiteres Bild zeigt den 28-jährigen, argentinischen Olympioniken im feinen Zwirn, umarmt von seinem zehn Jahre älteren Partner, Rob Jetten. Kurz vor der Aufnahme hatte der sich bei einer nervenaufreibenden Wahl gegen seinen rechts- populistischen Widersacher durchgesetzt. Was klingt wie die neue spanische It-Serie auf Netflix, ist gerade politische Realität geworden: Wenn die Koalitionsgrün- dung klappt, wird Rob Jetten als Gewinner der nieder- ländischen Parlamentswahlen im Oktober der jüngste und erste offen homosexuelle Ministerpräsident der Niederlande, Nicolás Keenan der erste offen bisexuelle First Gentleman. Als Klaus Wowereit am 10. Juni 2001 bei einem Sonder- parteitag der Berlin-SPD verkündete: „Ich bin schwul und das ist auch gut so“, war das noch ein Karriere-Ri- siko für den späteren Oberbürgermeister Berlins. Das erste Outing eines deutschen Spitzenpolitikers stellte eine Sensation dar, die breit diskutiert wurde. Was diese Beispiele zeigen: In jüngster Vergangenheit haben sich gesellschaftliche Werte rund um Liebe und Beziehun- gen stark geändert – nicht zum ersten Mal. Seit es Men- schen gibt, sind diese Werte ständig im Wandel. Das ist gut so, denn es zeigt: Veränderung ist möglich. 90 Good News Magazin Abbildung:Achilleus verbindet den von einem Pfeil getroffenen Patroklos. Innenseite eines attischen rotfigurigen Kylix, um 500 v. Chr. Aus Vulci.
Ist es sinnvoll, historische Beispiele für „queere Liebe“ zu suchen? Das ist ein wichtiger Grund dafür, weshalb sich in den Geisteswissenschaften Widerstand regt, wenn heute nach Beispielen für queere Liebe in der Menschheits- geschichte gesucht wird. Für Ben Miller, Historiker für queere Geschichte, Autor des Bestsellers „Bad Gays“ und Vorsitzender des Schwulen Museums in Berlin, sind Personen wie die römischen Kaiser Trajan oder Elagabalus keine geeigneten Beispiele für frühes homosexuelles oder transidentes Leben. Denn Sexualität war in der antiken griechischen Ge- sellschaft völlig anders konstruiert, argumentiert er, nämlich so, „dass ein vollwertiger, männlicher Bürger eine Ehefrau hatte und zusätzlich noch Sex mit Män- nern von niedrigerem sozialem Status – allerdings nur als der aktive Partner. Wenn wir an einen schwulen Mann in unserer zeitgenössischen Welt denken, den- ken wir in der Regel an zwei Partner von ähnlichem oder gleichem sozialen Status. Und nichts an den bei- den sagt etwas darüber aus, wer was mit wem tut.“ Ganz anders also als im antiken Griechenland, wo die Erbfolge durch die Hochzeit gesichert werden musste. „Das sind zwei verschiedene soziale Institutionen. Sie haben zwei verschiedene Bedeutungen“, so Miller. Wa- rum es trotzdem sinnvoll sein kann, queere Geschichte zu untersuchen, erklärt er im Interview – in voller Länge verfügbar als Folge 37 von Weltaufgang – der Good News Podcast. Zeiten ändern sich Was diese Beispiele zeigen: in jüngster Vergangenheit haben sich gesellschaftliche Werte rund um Liebe und Beziehungen stark verändert. Seit es Menschen gibt, sind diese ständig im Wandel. Tagtäglich handeln Menschen im Zusammenleben aus, was als „gut“, „schlecht“ oder „normal“ gilt. In der Regel werden das Verhalten und die Vorlieben der Mehrheit zur Norm oder gar zum Gesetz. Personen, die von der Norm ab- weichen, denen droht bestraft, ausgestoßen oder ge- ächtet zu werden. Im mittelalterlichen Europa etwa wurden Männer, die mit Männern schliefen, als Sünder betrachtet. Ihre Lie- bes- und Sexpraktiken wurden aber zunächst toleriert. Ab dem 13. Jahrhundert wurde dann beinahe flächen- deckend die Todesstrafe für den Analverkehr zwischen Männern eingeführt. Im Europa der Neuzeit weiteten Herrschaftshäuser, im Einklang mit kirchlichen Moralvorstellungen, die To- desstrafe auf Frauen aus, die mit Frauen schliefen und Menschen, die Sex mit Tieren hatten. Alle drei Sexual- praktiken galten gleichermaßen „wider die Natur“. Wer verurteilt wurde, landete auf dem Scheiterhaufen. Im Europa der Moderne wandelten sich Normen und Werte erneut. Während Preußen die Todesstrafe zu einer Gefängnisstrafe abmilderte, wurden gleichge- schlechtliche Sexualpraktiken in Frankreich ab 1791 gänzlich straffrei. Mit der Gründung des Deutschen Reiches durch Otto von Bismarck, der sich auf preußische Moralvorstel- lungen und den Willen des Volkes berief, entstand aus Vorgängergesetzen 1872 schließlich der berüchtigte § 175. In der Originalversion stand: „Die widernatürliche Unzucht, welche zwischen Personen männlichen Ge- schlechts oder von Menschen mit Thieren begangen wird, ist mit Gefängniß zu bestrafen; auch kann auf Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden.“ Der § 175 wurde im Dritten Reich massiv verschärft, in der Bundesrepublik nicht vor 1969 reformiert und erst 1994 abgeschafft – wobei die abschließende Aufhe- bung der Strafbarkeit homosexueller Handlungen und die spätere Rehabilitierung der Opfer erst kurz vor der Jahrtausendwende erfolgten. Diese Gesetze, die Moralvorstellungen davon, was in intimen Beziehungen als „normal“ oder „unnormal“ gilt, widerspiegeln, zeigen: Über Jahrhunderte ging es in Europa nicht vordergründig darum, wen ein Mensch liebte, sondern mit wem eine Person Sex hatte. . m o c . s o t o h p t i s o p e d - 3 0 1 o t i n : d l i B 91
Das ist der Fluch und Segen des Liberalismus des 19. Jahrhunderts. All diese Menschen werden aus feudalen Beziehungen gerissen, besitzen kein Land, das sie be- stellen könnten und müssen ihre Arbeitskraft gegen Ge- halt eintauschen. So entstehen entfremdende Lebens- bedingungen, aber auch die Bedingungen für bestimmte Arten von Freiheiten und eine Art Selbstausdruck. Zu diesem Zeitpunkt wird auch heterosexuelles Da- ting erfunden. Interessanterweise hat sich der Begriff Heterosexualität aus dem Begriff Homosexualität entwickelt. Also, heterosexuelles Dating wurde gerade erfunden, all diese Menschen treffen aufeinander, und plötzlich wird die Moral dieser Menschen zu einer öf- fentlichen Angelegenheit. Es ist auch wichtig zu beachten, dass zu diesem Zeit- punkt kein Unterschied gemacht wurde zwischen dem, was wir heutzutage schwul und trans nennen würden. Es gibt also absolut keine formale diskursive Unterscheidung zwischen diesen Dingen. Alles befin- det sich auf einem Spektrum und all diese Unterschei- dungen zwischen schwul und trans wurden von schwulen Männern gemacht, die sich von Dragqueens und Sexarbeitern aus der Unterschicht abgrenzen wollten. VITELLO: Wir reden jetzt also darüber, dass diese Männer im 19. Jahrhundert damit beginnen, sich eine schwule Identität aufzubauen? MILLER: Ich möchte ein wenig weiter gehen und über die Bedingungen sprechen, die Identität ermöglichen. Was muss also stimmen, damit die Menschen be- stimmte Möglichkeiten haben? Und da kommen wir ins Gespräch darüber, wie diese neuen Identitäten im späten 19. Jahrhundert in einer Welt entstehen, in der plötzlich Menschen massenweise zum ersten Mal in Städten leben. Das bedeutet übrigens nicht, dass es dieses Verhalten nicht schon vorher gab. VITELLO: Ben, du siehst queere Geschichtsschrei- bung durchaus kritisch. Trotzdem erforschst du das Leben bemerkenswerter Persönlichkeiten der queeren Geschichte wie Magnus Hirschfeld. MILLER: Hirschfeld ist der Pionier des modernen li- beralen Konsenses über sex und gender. Und damit meine ich, es fühlt sich für die meisten Menschen, die heutzutage leben, würde ich sagen, sehr offensichtlich an – sogar für die meisten queerfeindlichen Menschen – dass es schwule oder lesbische oder trans Personen gibt, und dass ihr Schwulsein oder Lesbischsein oder Transsein eine Art fester Bestandteil von ihnen ist. Wir gehen davon aus, dass man ein schwuler Mann sein kann, dass ich schwul sein kann, ohne dass es den Grad meiner Männlichkeit verändert, also, ohne, dass ich dadurch weniger Mann bin. Es gibt alle möglichen kulturell geprägten Annahmen, die mein Mannsein verkomplizieren, aber ich werde nicht für eine Frau gehalten, wenn ich die Straße hinuntergehe. Die Anfänge dieser ganzen Konzepte liegen unter an- derem in Hirschfelds Leben und Forschung. Er wird im späten 19. Jahrhundert in Ostpommern im heuti- gen Polen geboren. Nach dem Medizinstudium zieht er nach Berlin. Er kommt aus einer bürgerlichen jüdi- schen Familie, und er erhält eine medizinische Aus- bildung, die in Bezug auf sexuelle Angelegenheiten ziemlich prüde und Sexualität gegenüber feindlich eingestellt ist. Zeichnungen von Geschlechtsorganen werden entfernt, sobald sie gezeichnet werden. Ein Homosexueller wird zusammen mit einem Kinder- schänder und jemandem, der sich vor Frauen auf der Straße entblößt, der Klasse vorgeführt. Was hier wichtig ist anzumerken: Wenn ich ‚ein Homosexueller‘ sage, spreche ich über eine neue Art von Person, die zu dieser Zeit gerade erfunden wird. Im 19. Jahrhundert ziehen Menschen massenweise in die europäischen Städte. Diese Massen an Menschen leben zum ersten Mal ihr Leben auf eine Art und Weise, durch die sie die Fähigkeit erlangen, eine Se- xualität zu haben, und das klingt nicht sehr intuitiv, deswegen breche ich es kurz herunter: In vielen traditionellen Gesellschaften wird alles, was mit dem Werben um Partnerschaft und dem Bezie- hungs- oder Sexualverhalten zu tun hat, von der Ge- meinschaft bestimmt. Wenn man in so einer Situation lebt, hat man zwar vielleicht die ganze Zeit Sex mit an- deren Männern, aber wahrscheinlich endet man trotz- dem in einer gegengeschlechtlichen Ehe und hat Kin- der. Wenn man allerdings in eine Stadt zieht und selbst entscheiden kann, wie man Partnerschaft lebt, dann hat man ein bisschen mehr Selbstbestimmung, oder? 92 Good News Magazin Symposium, Szene aus dem Grab des Tauchers in Paestum i i i . . g r o a d e m k w s n o m m o c - r e d l r o w n e e r g : d l i B
Gleichgeschlechtliches Sexualverhalten und gender trouble, also Geschlechtergrenzen überschreitendes Verhalten sind so alt wie die Welt und sie existieren in jeder Gesellschaft. Die Art, wie wir sie konstruieren und darüber nachden- ken, ist neu und daher entsteht diese Phrase, die oft in der populären queer history auftaucht, nämlich, dass wir schon immer da waren. Das waren wir aber nicht. Und ich denke, die Tatsache, dass wir nicht schon im- mer da waren, ist eigentlich eine gute Nachricht, oder? Weil es bedeutet, dass die Welt sich verändern kann und ich denke, viele von uns würden mir zustimmen, wenn ich sage, dass die Welt sich verändern muss. Und ich denke, diese spezifischen Identitätskatego- rien, mit denen wir heute leben, sind nicht etwa ent- standen, weil dieser historische Zeitpunkt besonders fortschrittlich gewesen wäre. Im Gegenteil: Diese Identitätskategorien sind entstanden, weil es eine be- sonders reaktionäre und gewaltvolle Zeit war. Das sind Identitäten, die aus gewaltsamer Vertreibung, Koloni- sierung und großer sozialer Ungleichheit entstanden sind. Das sind alles Themen, die heute immer noch eine große Rolle spielen. Und wenn wir so über diese Kategorien nachdenken: Sie beginnen als medizinische Diagnosen und Men- schen versuchen, sie zu verändern, womit wir wieder bei Hirschfeld wären. Der ist Arzt. Er will ein bestär- kender Mediziner sein. Er vertritt den Ansatz, dass Menschen in eine von tausenden ‚sexuellen Zwischen- stufen‘, wie er sie nennt, zwischen 100 Prozent Mann und 100 Prozent Frau, fallen und dass es sich dabei um eine gutartige biologische Abwandlung handele. VITELLO: Du denkst, es gibt bessere Argumente für eine gleichberechtigte Behandlung queeren Le- bens, als den Hinweis darauf, dass Lesbischsein oder Transsein biologisch angeboren und damit ganz natürlich ist? MILLER: Hirschfeld akzeptiert die Vorstellung, dass es sich um eine medizinische Diagnose handelt. Sehr interessant ist, dass niemand jemals herausgefunden hat, was diese medizinische Diagnose sein könnte. Niemand hat je eine biologische Grundlage für Homo- sexualität entdeckt, und ich glaube, das liegt daran, dass es keine gibt. Ich denke – und das ist jetzt meine persönliche Mei- nung – dass es bessere Argumente für die Entfaltung queeren Lebens gibt, als das Argument ‚wir können einfach nichts dafür‘. Die Grundlage für den liberalen Konsens über die Rechte von Schwulen und Lesben, die aus diesem von Hirschfeld geprägten Diskurs her- vorgeht, und ähnliche Sachen in vielen anderen Län- dern, kann man wahrscheinlich am besten mit dem Song von Lady Gaga, ‚Born This Way‘, zusammenfas- sen. Wir wurden so geboren und können stolz darauf sein, so geboren worden zu sein, aber selbst, wenn man stolz darauf ist, so geboren worden zu sein, sagt man damit ja eigentlich: ‚Ich kann einfach nichts dafür‘, oder? Man denkt dann immer noch so darüber, als wäre es eine Krankheit. Und es gibt ein paar Probleme damit. Eines davon: Wenn wir an Sexualität und Geschlecht als etwas Biologisches denken, dann ignorieren wir die Tatsache, dass sich die Anzahl der Menschen, die sich als queer identifizieren, im Laufe der Zeit enorm verändert, sobald sich die sozialen Möglichkeiten än- dern: Wenn man sich die letzten Generationen an- schaut, identifizieren sich ungefähr 3 Prozent der Boomer-Generation in den meisten westlichen Län- dern als LGBTQ. Bei der Generation X sind es etwa 10 Prozent, unter den Millennials sind es etwa 12 Pro- zent, in der Generation Z sind es ungefähr 20 oder 25 Prozent. Und ein großer Anteil dieses Wachstums in der Generation Z liegt an Menschen, die sich als bi- sexuell oder nichtbinär identifizieren. Es passiert etwas. Jeder kann das sehen. Es gibt mehr Schwule, Lesben und Bisexuelle. Es gibt mehr Men- schen, die aus der Heterosexualität ausbrechen. Hete- rosexualität ist eine künstliche Konstruktion, die ge- rade mal 100 Jahre alt ist. Und es gibt mehr Menschen, die für sich verschiedene Wege durch die Welt finden, die besser für sie funktionieren. Und das ist gut. Good News Magazin 93
m o c . i k p e e r f . e d - o a t _ g n n e v e i : d l i B VITELLO: Du hast erklärt wie in europäischen Städten durch die Industrialisierung, auch queere Identitäts- politiken entstanden – als Reaktion auf Diskriminie- rung. Inwiefern war das in verschiedenen Teilen der Welt anders? Zum Beispiel, wenn wir einen Blick wer- fen in lateinamerikanische, asiatische oder afrikani- sche Länder zur selben Zeit. Kannst du uns ein Bei- spiel dafür geben, wie in anderen Kulturen auf das geblickt wurde, was wir heutzutage homosexuell oder trans nennen würden? Welche Möglichkeiten hatten Individuen in anderen Kulturen? MILLER: Wir reden hier wieder über Verhaltensweisen, nicht Identitäten. Es gibt also keine homosexuellen Menschen oder trans Menschen, so wie wir sie heute verstehen, zum Beispiel im präkolonialen Nigeria. Dr. Achebe, die Tochter des bekannten nigerianischen Romanautors Chinua Achebe, hat eine Biografie über einen weiblichen König im präkolonialen Nigeria ge- schrieben. Diese Person wurde so bekannt, dass sie zu einer Figur in der queer theory, also der queeren For- schung wurde. Und die Leute redeten darüber, ob man diesen weiblichen König mit Bezug auf gender trou- ble, Geschlechtergrenzen überschreitendes Verhalten wahrnehmen könne, oder mit einer Transperspektive auf diese Person schauen könnte. Und Dr. Achebe sagte dazu: „Nein, nein, importiert nicht eure westli- chen queeren Vorannahmen, indem ihr sie auf diese Person projiziert.“ Wir reden hier über ein ganz anderes sex-gender-Sys- tem, in dem es möglich ist, ein weiblicher König zu sein, ohne dadurch weniger Frau und ohne unbedingt lesbisch zu sein. Wenn man diese Dinge wirklich ernst nehmen will, reicht es nicht aus, einfach nur in ande- ren Kulturen nach Beispielen dafür zu schauen, wie wundervoll und besonders wir sind. Ein starkes Beispiel dafür, dass wir sehr vorsichtig mit unseren Vorannahmen und dem europäischen Blick sein müssen, ist das der Ethnologin Margaret Mead. Sie ist eine bisexuelle Frau, die in einer emotionalen Krise nach Samoa reist und behauptet, sie könne, da es sich bei der samoanischen Kultur um eine sehr ein- fache Kultur handle, in acht Wochen alles darüber ler- nen. Und wer hätte das gedacht? Sie findet ausgerech- net heraus, dass die jungen Frauen auf Samoa sexuell sehr frei und offen sind. Ihr Text wird zum Standardtext darüber, wie Men- schen auf Samoa leben. Dabei sagen Menschen aus dem Südpazifik, die ihre Bücher später lesen: ‘Worü- ber zur Hölle redet sie da?’ In einer Doku aus den 70ern sagt einer der Befragten sogar: ‚Ja, meine Groß- mutter erinnert sich daran, als Margaret Mead 94 Good News Magazin gekommen ist. Sie war nervig, also haben wir die selt- samsten Dinge getan, die uns eingefallen sind, bis sie weggegangen ist.‘ Das ist eine starke Warnung, was passiert, wenn wir auf eigenen Selbstentdeckungsrei- sen andere Menschen dazu verdammen, missverstan- den zu werden. VITELLO: Sind alle Beispiele aus der queeren Ge- schichte so verzerrt? MILLER: Ich habe ein paar Mal geschrieben und ge- sagt, dass ich nicht wirklich über Geschichte als eine Wissenschaft nachdenke. Für mich handelt es sich bei Geschichte um Gedichte über Geister. Aber ich denke, dass diese Gedichte über Geister uns dazu anspornen, so wahrhaftig, so nah an der Wahrheit wie möglich zu sein, bei unserem Versuch, eine Vergangenheit wie- derherzustellen, die ganz grundsätzlich aufgrund ihres Wesens nicht vollständig wiederherstellbar ist. Eine der am häufigsten wiederholten Aussagen über die Geschichtsschreibung lautet, dass die Vergangen- heit ein fremdes Land ist. Dort werden die Dinge an- ders gemacht. VITELLO: Und ist es trotzdem sinnvoll, in diesem fremden Land nach queeren Lebens- und Liebesge- schichten zu forschen, um davon zu lernen? MILLER: Das können wir machen. Ich glaube nicht, dass es unmöglich ist, den Anderen zu verstehen. Aber um den Anderen zu verstehen, ist es erforderlich, nicht all die Annahmen selbst zu treffen, die wir gerne treffen wollen. Wenn wir den Anderen wirklich adressieren wollen oder verstehen wollen oder über den Anderen nachdenken wollen, sollten wir sehr vorsichtig damit sein, welche Vorannahmen wir mitbringen und warum. Was genau ist unser Ziel dabei? Oft ist die Antwort auf diese Frage, dass wir uns selbst besser verstehen wollen. Das ist an sich nicht unbedingt falsch oder schlecht, solange wir ehrlich sind, was wir da machen und so- lange wir das nicht auf ausbeuterische Weise tun.
Queere Geschichte: Wo finde ich mich wieder? Der starke Wunsch, Geschichte trotz aller Herausfor- derungen bewusst durch die Brille queerer Erfahrun- gen zu sehen, hat sicher auch in besonderem Maße mit Diskriminierung zu tun. Wer sich früh ausgeschlossen oder gar bedroht fühlt, weil das eigene geschlechtliche Verständnis beziehungsweise die eigene (a)sexuelle oder (a)romantische Anziehung nicht zu den Vorstel- lungen der Mehrheitsgesellschaft passen, entwickelt leicht ein tiefes inneres Bedürfnis, sich selbst besser verstehen zu wollen. Kaum ein Werk drückt das besser aus als der Doku- mentarfilm „The Celluloid Closet“. Darin werden 100 Jahre Filmgeschichte anhand von 120 Hollywood- Klassikern wie „Ben Hur“, „Manche mögen’s heiß“, „Die Farbe Lila“, „My Private Idaho“, „Philadelphia“ oder „das Schweigen der Lämmer“ auf queere Motive untersucht. Insider:innen und Zeitzeug:innen wie Tony Curtis, Whoopi Goldberg, Gore Vidal und Tom Hanks kommentieren darin, inwiefern queeres Lieben und Leben auf der Leinwand sichtbar oder unsichtbar ge- macht wurde. Von Marlene Dietrichs und Charlie Chaplins ersten Kassenschlagern bis hin zu den gro- ßen Blockbustern der heutigen Zeit, beeinflussen Filme in großem Maße das politisch-persönliche Ver- hältnis zu Liebe und Sexualität. Interessant dabei ist, dass auch im Queer Cinema der Fokus häufig vornehmlich auf homosexuellen Ge- schichten lag. Dabei ist die Selbstbeschreibung „queer“ eigentlich viel mehr: Ursprünglich eine abwertende Bezeichnung, hat sich der Begriff zu einer positiven Selbstbezeichnung für nicht-heteronormative Lebensmodelle gewandelt. Das heißt, queer ist nicht nur der Versuch, wegzukommen von binärem „homo“ versus „hetero“ oder „Mann“ ver- sus „Frau“-Denken, sondern auch eine Erweiterung geradliniger, europäisch beherrschter Ideen von ge- sellschaftlicher Entwicklung. Es geht weniger um eine Sicht von Unterdrückung versus Befreiung, sondern vielmehr um vielschichtige Lebensläufe und Erfahrun- gen, die außerhalb starrer Grenzen von Nationalstaa- ten oder ethnischen Zugehörigkeiten passieren. Muttergöttinen und das Erbe der Sklaverei: Queere (Selbst)Liebe Die Religion der Đạo Mẫu in Vietnam bietet Men- schen genau dafür bis heute einen geschützten Raum. Bei Ritualpraktiken wie dem „lên đồng“ verbinden sich Priester:innen als Medium mit den Göttinnen. Dabei ist es auch männlichen Priestern erlaubt, sich während der Verbindung mit den Göttinnen weiblich zu kleiden und zu verhalten. Auch wenn in Vietnam, wie Ben Mil- ler zur Vorsicht mahnt, andere Sex-Gender-Vorstellun- gen vorherrschen, so sind diese weder historisch natio- nal einheitlich – etwa zwischen ethnischen und kultu- rellen Minder- und Mehrheiten im Land – noch kön- nen sich diese, spätestens seit der französischen Kolo- nialzeit, von Wechselwirkungen mit europäischen Vorstellungen befreien. Viele der männliche Medien identifizieren sich heute als queer, obwohl sie mit Vorurteilen und verinnerlich- ter Homophobie kämpfen. Diese gesellschaftlichen Stigmata gegenüber Geschlechtsidentitäten und se- xueller Orientierung in der stark hierarchisch und pat- riarchalisch strukturierten vietnamesischen Mehr- heitsgesellschaft sind den westlichen sehr ähnlich. Durch ihre spirituelle Praxis können Medien der Đạo Mẫu ihr Geschlecht und ihre Sexualität performativ hinterfragen. Queere Geschichte ist voller solcher Selbsterkundun- gen. An der Wurzel standen mit den Befreiungskämp- fen der LGBT-Bewegungen, insbesondere die 1969 entstandene Gay Liberation und der lesbische Femi- nismus, Ansätze, die Identätskategorien kritisch sahen und verstärkt Gefühle und politische Solidarität be- tonten. Ähnlich wie die US-amerikanische Professorin, Theoretikerin und Bestsellerautorin bell hooks über das emotionale Erbe der Sklaverei schrieb: „uns selbst mit Liebe zu begegnen, unser Schwarzsein zu lieben, ermöglicht uns allen, zur wahren Bedeutung von Frei- heit, Hoffnung und einem Leben voller Möglichkeiten zurückzufinden“, so ist auch für queere Menschen Selbstliebe eine Säule der eigenen Befreiung. In den Geisteswissenschaften besteht Uneinigkeit da- rüber, inwiefern Beispiele wie das der Đạo Mẫu dabei zu Rate gezogen werden dürfen - während die eine Seite das koloniale Erbe der Disziplin und eine persön- liche Bevorteilung westlicher Forscher:innen kritisiert, betont die andere eine Verantwortung des empathi- schen Handelns und eine Notwendigkeit, dafür von anderen Kulturen zu lernen. Einigkeit besteht darin, dass es bessere Gesellschaftsentwürfe für queere Le- bensentwürfe braucht. Good News Magazin 95 m o c . s o t o h p t i s o p e d - e n O a u d v d n i l i I : d l i B
Eine mexikanische Drag-Queens provoziert den Klerus Am 20. Februar 2004, durften zwei Frauen, die einan- der liebten, ihre Liebe in San Francisco in Form einer Ehe offiziell anerkennen lassen. Bereits 20 Tage später wäre das nicht mehr möglich gewesen. Im Sommer des gleichen Jahres hätte es gar passieren können, dass ihre Ehe nachträglich wieder annulliert wurde. Ab Sommer 2013 dann hätten sie wieder heiraten dürfen – in San Francisco und auch überall sonst in den USA. In der langen Debatte um die Ehe für alle bezogen sich Gegenstimmen immer wieder auf Argumente aus der Bibel – eine in Debatten um queere Rechte in vielen Ländern auch aktuell häufige genutzte Argumentation, die allerdings eine lange historische Tradition hat: Als christliche Mönche im 15. Jahrhundert die spiri- tuellen Praktiken der „heidnischen“ Eingeborenen des heutigen Mexiko studieren, um passende Göttervor- lagen zu finden, die durch den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist ersetzt werden könnten, stoßen sie auf Xochipilli. Dieser Prinz der Blumen, Herr der Pflanzen, der Spiele, des Tanzes, der Fruchtbarkeit und aller Freuden des Lebens wird von den Azteken verehrt. Xo- chipilli wird dargestellt als ein Mann, der Blumen trägt und tätowiert ist. Damit erinnert er an die als heilig geltenden männlichen Sexarbeiter, die ahuianime in Tenochtitlán, als deren Beschützer Xochipilli ebenso gilt wie teilweise auch aller Männer, die gleichge- schlechtlichen Sex haben. Die Missionare sind verstört davon, wie natürlich gleichgeschlechtliche Liebe und geschlechtsübergrei- fendes Verhalten in der aztekischen Gesellschaft inte- griert ist. Drastische Briefe an Ihre Majestäten und den Klerus zeugen von der Empörung und dem Ekel über die „Sodomie“ der „Wilden“, die die „natürliche Göttli- che Ordnung“ störten. Der Duktus ist dabei manch aktueller Meldung des US-Senders Fox News über „kriminelle Mexikaner“ oder „frühkindliche Sexual- erziehung“ durch Dragqueens nicht unähnlich. Dass Xochipilli zu Ehren rauschende Feste gefeiert wurden, zu denen es gehörte, exzessiv zu tanzen und halluzino- gene Pflanzen einzunehmen, half dem Ansehen der Gegenseite dabei wenig. Erkenntnisse nicht trotz, sondern wegen der Andersartigkeit Gerade weil die Sex-Gender-Systeme anderer Zeiten zu unterschiedlich waren, bieten sie einen wertvollen Perspektivwechsel auf die Machtgefüge, die heute be- stimmen, wie wir uns selbst und andere (nicht) lieben. So können wir beispielsweise viel lernen von den tragi- schen Beziehungen zwischen dem römischen Kaiser Hadrian und der Liebe seines Lebens, dem jungen Griechen Antinous, oder der innigen Beziehung des dritten Shoguns der Tokugawa-Dynastie, Tokugawa Ie- mitsu, mit seinem Jugendfreund Sakabe Gozaemon. Dabei geht es weniger um die Beziehungen selbst als Vorbilder – Tokugawa Iemitsu ermordete Sakabe Go- zaemon in einem Streit in der Badewanne und Antinous soll sich im Zuge eines selbstgeschaffenen Kultes, in den Nil gestürzt haben, weil er zu alt für seinen Gott-Kaiser geworden war – sondern vielmehr um die ganz andere moralische und rechtliche Bewertung: Kaiser Hadrian beispielsweise geriet früh in Probleme für seine sexuel- len Eskapaden, aber nicht wegen seiner Vorliebe für Ju- gendliche, sondern im Gegenteil, weil er auch mit gleichaltrigen Männern seines Standes schlief, was aus Sicht der Römer deren Ehre beschmutzte. Auch wenn diese Beziehungen zwischen Männern nicht einfach gleichzusetzen sind mit modernen schwulen Liebesgeschichten – die Selbstverständlich- keit, mit der Tokugawa Iemitsu als Herrscher seiner Dynastie neben seinen Beziehungen mit Frauen auch mit Männern schlief und seinen Jugendfreund liebte, liefert Erkenntnisse über Gesellschaften, in denen Liebe in Beziehungen zunächst eine untergeordnete Rolle spielte. Das galt sowohl bei den Griechen und Römern der Antike, wie auch für die Edo-Zeit Japans im 17. Jahrhundert, wo gleichgeschlechtliche Bezie- hungen in der japanischen Hofkultur und in der Samu- rai-Kriegerklasse üblich waren: Ehen wurden aus poli- tischen oder praktischen Gründen geschlossen. Vor dem Hintergrund, dass romantische Liebe insbe- sondere als Motivation für Heirat und den damit ver- bundenen rechtlichen Rahmen auch in Europa erst seit kurzer Zeit eine wichtige Rolle spielt, bietet es sich an, aktuelle Fragen zu übertragen wie: Wer bestimmt, was normal ist? Wie reagieren Gesellschaften auf non- konformes romantisches, sexuelles oder geschlechts- identitäres Verhalten? Inwiefern werden Liebe, Sex und Geschlechterrollen zwischen Menschen kontrol- liert? Durch wen? Und warum? 96 Good News Magazin
Hat Lady Gaga doch recht? Auch wenn strittig ist, wie viel wir sicher über das Sex- Gender-System der Azteken wissen können, so ist doch mindestens die Reaktion der christlich-kolonia- len Geschichtsschreibung ein klares Zeichen dafür, dass gleichgeschlechtliches und transidentes Leben spätestens seit dem Aufeinandertreffen von Missiona- ren und Atzteken provozierte. Insofern ist das „Born this way“ Argument vielleicht durchaus ein wichtiges Argument auf dem Weg zu einer gerechten Gesell- schaft. Nicht als Diagnose des „ich kann nicht anders“, sondern als Bekräftigung eines „du bist nicht allein“. Wenn queere Menschen schon immer existiert haben – nicht im Sinne einer queeren Identität, sondern im Sinne von Menschen, die mit ihrem Selbstverständnis oder schlicht mit ihrem (a)romantischem oder (a)se- xuellem Verlangen von der Mehrheit abgewichen sind – dann liegt darin einerseits Trost für Menschen, die sich einsam fühlen und anderseits ein großes Potential, vom jeweiligen Sex-Gender-Verständnis verschiede- ner Kulturen und Zeiten zu lernen – von ausschließen- den ebenso wie von einschließenden. Dazu gehört es auch – und besonders – zu erkennen, dass der Fortschritt queerer Rechte keinesfalls auf dem Rücken von Bevölkerungsgruppen geschehen darf, die bewusst ausgegrenzt und andersgemacht werden. Ob rechtspopulistische Parteien mit ihrer Homofreund- lichkeit werben, um mittelständische, weiße Lesben und Schwule gegen Muslim:innen und Transpersonen aufzubringen oder ob westliche Nationalstaaten Kriege vor Queers mit ihrem vermeintlichen Menschen- rechtsanspruch rechtfertigen, obwohl sie bis vor weni- gen Jahren deren Rechte mit Füßen getreten haben, dahinter stecken die immer gleichen Mechanismen der Unterdrückung und Täuschung. Sie sind so alt wie die Menschheit selbst und schaden am Ende immer den Schwächsten in der Gesellschaft. Eine Geschichtsschreibung also, die stark verklärt ist, jedoch bewusst und mit Vorsicht durch eine queere Brille zu lesen, kann schließlich dazu beitragen, eine neue Sicht auf die Liebe zu gewinnen, die Fürsorge, Anteilnahme und Gemeinschaft in den Vordergrund stellt und damit der Vision von bell hooks nahekommt: „eine angstbefreite Liebe, die von sakraler Kraft getra- gen, erlösend und heilsam ist – nicht nur heilsam für Individuen, sondern für eine ganze, in sich gespaltene Nation.“ Ob durch einen radikalen Neuentwurf der Liebe wie bei Şeyda Kurt oder durch das Überwinden „unserer Kultur der Lieblosigkeit“ mit einer „eigenen Sprache der Zärtlichkeit“ wie bei bell hooks – die Ent- scheidung, zu lieben, wird zum Akt der Befreiung, in- dem Menschen ein gerechteres Miteinander wagen. Good News Magazin 97 i i i . g r o a d e m k w s n o m m o c - . m u e s u M s d r a b m o L : d l i B Xochipilli, Aztekische Terrakotta
Beispiele: Hijras, Indien Seit der Antike sind sie als dritte Geschlechtskategorie anerkannt und erscheinen bereits in alten Texten wie dem Kama Sutra (zwischen 200-400 n. Chr.), wo ge- meinsam mit verschiedenen Typen gleichgeschlechtli- cher Liebe auch Transgeschlechtlichkeit beschrieben wird. Während den Hijras in Zeiten der Mogulherrscher Einfluss als Hofbedienstete zugeschrieben wird, wur- den ihre Rechte in der Kolonialzeit beschnitten. Heute leben Hijras in Gemeinschaftshaushalten, denen eine Guru vorsteht. Sie kämpfen für queere Rechte, auch wenn ihre Identität kein exaktes Gegenstück im west- lichen Verständnis von Geschlechtsidentitäten hat. Bissu auf Sulawesi, Indonesien Eine Gemeinschaft, die sich weder als männlich noch weiblich versteht und als spirituelle Vermittelnde zwi- schen Menschen und Göttern gelten. Das nicht-binäre Verständnis von Geschlecht haben viele Kulturen In- donesiens wie calabai, warok, waria oder gemblakan gemeinsam, deren Sprachen meist hierarchisch statt geschlechtlich aufgebaut sind, was Geschlechtsfluidi- tät unterstützt. Trotz ihrer spirituellen Rolle sind die Bissu auch praktizierende Muslime und werden regio- nal respektiert. Allerdings fordert ihre Kosmologie re- ligiöse konservative Vorstellungen heraus und führt zu Auseinandersetzungen. maa khii Media, Burma und Thailand praktizieren noch heute uralte animistische Rituale, die dem Buddhismus vorausgehen. Ursprünglich wa- ren die meisten Medien Frauen, doch heute kleiden sich auch Männer in farbenfroher Frauenkleidung, um zwischen der Geisterwelt und der Welt der Lebenden zu vermitteln. Die genderfluiden maa khii bieten spiri- tuellen Rat und überschreiten traditionelle binäre Ge- schlechtermodelle. Kitzen and Jeni Branting, USA Sie waren das erste gleichgeschlechtliche Paar, das im US-Staat Oregon legal heiratete. Die indigene Ge- meinschaft der Coquille öffnete 2008 die Ehe für Schwule und Lesben und konnte sich dabei über das in der Verfassung von Oregon festgelegte Verbot der gleichgeschlechtlichen Ehe hinwegsetzen, weil Bun- desgesetze anerkannten indigenen Gruppen innere Autonomie zugestehen. 98 Good News Magazin
Female King Ahebi Ugbabe, Nigeria, war der einzige weibliche König im kolonialen Nigeria. Geboren um 1880 fasst Nwando Achebe ihr Leben so zusammen: „Sie war eine ‚Sklavin‘, die mit einer Gott- heit verheiratet war, eine Flüchtige, eine Sexarbeiterin, ein Dorfvorsteher, eine Warrant Chief und schließlich eine weibliche Königin. Sie war eine starke Anführerin ihres Volkes, zugleich aber auch eine Kollaborateurin, die vom britischen Kolonialregime in Nigeria ernährt und eingesetzt wurde.“ Nzingha Mbande, Angola, war Herrscherin der Königreiche Ndongo und Ma- tamba im heutigen Angola im 17. Jahrhundert und bekannt für ihren Widerstand gegen die portugiesische Kolonialmacht. Sie wurde Anführerin der Jagas, nomadischer Krieger, eroberte das matriarchalisch regierte Matamba und baute eine schlagkräftige Armee auf. Bekannt wurde sie auch für ihre weiblichen Liebhaberinnen und da- für, sich Geschlechterrollen zu widersetzen. Sie klei- dete sich konsequent männlich, umgab sich mit Män- nern in Frauenkleidung und führte ihre Truppen selbst in die Schlacht. König Mwanga II von Buganda (heutiges Uganda, 19. Jahrhundert) war offen homosexuell oder bisexuell und widersetzte sich der britischen Kolonialherrschaft, die seine Sexua- lität als unmoralisch brandmarkte, und dem wachsen- den Einfluss der christlichen Kirche, zum Teil durch ge- waltvolle Verfolgung. Dennoch zeigt seine Geschichte, dass gleichgeschlechtliche sexuelle Beziehungen in Af- rika vorkolonial bekannt war – in bestimmten Gemein- schaften sogar ritueller oder spiritueller Teil der Kultur. Lesbos, Griechenland Um 520 v. Chr.: Anakreon widmet ein Gedicht dem „Mädchen von Lesbos“, das sich dem Dichter verwei- gert und stattdessen eine Frau erwählt. Dadurch bildet sich im Zusammenhang mit Sappho, die auf Lesbos ge- boren wurde und in ihren Dichtungen unter anderem die Liebe zwischen Frauen beschreibt, der Begriff „Lesbierin“. Herzog Ling und Mizi Xia; Kaiser Ai und Dong Xian, China, sind zwei Geschichten aus dem antiken China: Der Herzog Ling (534-493 v. Chr.) reichte seinem Geliebten Mizi Xia bei einem Spaziergang durch den Obstgarten einen angebissenen Pfirsich, weil dieser besonders süß war. Die andere Geschichte erzählt von Kaiser Ai (206- 200 v. Chr.), der sich einen Ärmel abgeschnitten haben soll, um seinen Geliebten Dong Xian nicht zu wecken, der auf ihm eingeschlafen war. Bis heute bleiben der „geteilte Pfirsich“ und der abgeschnittene Ärmel in China Synonym und Symbol für romantische und/oder sexuelle Beziehungen zwischen Männern. Explizite Vasen bei den Moche, Peru In der präkolumbischen Zeit Perus und anderer Anden- regionen sind gleichgeschlechtliche sexuelle Beziehun- gen und Liebe durch archäologische Funde gut belegt. In der Moche-Kultur (ca. 100–800 n. Chr.) gibt es ex- plizite Darstellungen von Sexualakten. Während der Vaginalverkehr zwischen Mann und Frau dominiert, gibt es auch eine Vielzahl diverser sexueller Ausdrucks- formen. Gleichgeschlechtliche Handlungen könnten symbolische oder rituelle Bedeutungen gehabt haben, die über die reine Erotik hinausgingen, etwa als Aus- druck von Macht oder spiritueller Transformation. Gilgameš und Enkidu, Babylonien Das Gilgamesch-Epos aus dem 21. Jahrhundert vor Christus ist das bekannteste Werk der akkadischen und der sumerischen Literatur. Darin ziehen Gilgameš, der Herrscher von Uruk, und sein Gefährte, der Wüs- tenmensch Enkidu, den Zorn der Götter auf sich, weil sie gemeinsam die Heilige Zeder fällen und den Him- melsstier bezwingen. Enkidu wird zum Tod ver ur teilt, was Gil ga meš in tiefe Ver zweifl ung stürzt. Die Ge- schichte der tiefen Männerliebe gilt weitläufig als eines der ersten Werke, in dem auf gleichgeschlechtliche Anziehung angespielt wird. Chnumhotep, Nianchchnum und Sarapias, Ägypten Um 2350 vor Christus wird das Grab von Chnumhotep und Nianchchnum in Ägypten fertiggestellt. In der Ägyptologie brach ein Streit darüber aus, ob die beiden Liebhaber waren. Viele archäologische Funde zeigen gleichgeschlechtliches Leben in Ägypten. Ein weiteres bekanntes Beispiel: Um 200 wird in Oberägypten ein Zauberspruch auf Papyrus von einer Frau namens Sa- rapias verwendet, um die von ihr geliebte Herais in ihren Bann zu schlagen. Good News Magazin 99
542 Bäume gepflanzt 7.880 kg Plastik aus Flüssen gefischt über 2160 zufriedene Mitglieder Das Good News Magazin im Abo www.goodnews-magazin.de/abo Print Digital Premium Karma (Fördermit- gliedschaft) 4 Mal GNM-Printmagazin pro Jahr mit besonderen Formaten, die es nur gedruckt gibt Klimaneutral auf 100 % Recyclingpapier mit Bio-Farben und Ökostrom gedruckt L Zugang zu den digitalen, exklusiven Artikeln aus dem Printmagazin + Audio der vorgelesenen Artikel Zugang zu digitalen, exklusiven GNM+ Artikeln Keine Werbebanner auf der Website Mitglieder Newsletter Digitale Gastzugänge zu GNM+ Artikeln (zusätzlich zu deinem Zugang) Du finanzierst ein Digital-Abo für eine Person, die sich derzeit kein Abo leisten kann und unterstützt unsere Arbeit besonders großzügig L L L L Plastik aus Flüssen holen in kg pro Jahr 1 1 L L L L L 1 3 L L L L L 2 L 5 Preis pro Jahr 39,60 € DE 49,80 € Int. 52,80 € 79,20 € DE 90,00 € Int. 144,00 € Unterstütze die Vision, ermögliche unabhängigen Journalismus und werde Teil einer positiven Bewegung! Herausgeber und V.i.S.d.P. David Gaedt Klistostraße 35 14165 Berlin Deutschland Chefredaktion Lucia Oiro stellv. Chefredaktion Luisa Vogt Redaktion Luca Kramarz, Mara Betjemann, Selina Schöberl, Jan Luca Rose, Florian Vitello, Viktoria Franke, Dennis Scheck, Antonia Rueller, Rebecca Wolfer, Sophie Fallnacker, André Latz, Antonia Scheurer, Lisa Naggatz Layout Tanja Pracht, Yannic Giss, Xiomara Wunderlich, Ranja Mayer, Oliver Barth, Jasmin Herrmann Coverillustration Tanja Pracht und das GNM-Team Ein besonderer Dank geht an Susanne Lehmann, Anne Winterling, Susanne Völler, Arik Platzek, Katharina Kroschel, Annika Baumgart, Fidel Strub, Bernd Schuster, Peggy Gillespie, Sara Johnson, Ahmed Hassan, Helmy Abouleish, Justus Harm, Ben Miller, Maryam, Marc Ehrmann Lust in der Redaktion mitzumachen? Melde dich bei [email protected] Anzeigenverwaltung David Gaedt [email protected] Kontaktmöglichkeiten Abo-Service: [email protected] redaktionelle Anliegen: [email protected] Allgemeine Anliegen [email protected] Website: www.goodnews-magazin.de Bestellung und Vertrieb für Einzelhandel Nova MD GmbH, Vachendorf Fließtextschrift Arizona Text von DINAMO® Druckerei dieUmweltDruckerei GmbH Lindenallee 3a 29393 Groß Oesingen Klimaneutral gedruckt mit Bio-Farben auf 100 % Recyclingpapier. www.dieUmweltDruckerei.de
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