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das ist ein GNM+ ArtikelWann bin ich schön?

von | 19. November, 2022

Melisa Raouf trat völlig ungeschminkt bei einer Misswahl an und löste damit zahlreiche Schlagzeilen aus. Aber warum interessiert uns das heute noch? In unserem Good News Thought reflektiert unsere Redakteurin Julia Verstraelen das gesellschaftliche Verständnis von Schönheit.

Ende Oktober 2022 polarisierte die Britin Melisa Raouf mit ihrer Teilnahme an der Miss-England-Wahl so sehr, dass sie sogar die Titelseiten der internationalen Presse schmückte. Grund dafür war nicht etwa ein Skandal, auch wenn manche Medien die Worte „Miss England oben ohne” titelten: Die 20-Jährige trat das Finale des Schönheitswettbewerbs ungeschminkt an. Diese Entscheidung machte sie über Nacht zur Heldin; zur vermeintlichen Sprengerin der Ketten, die uns Frauen zurückhalten. 

Ich war irritiert. Natürlich finde ich es toll, dass mittlerweile selbst Schönheitswettbewerbe nach und nach entspannter zu werden scheinen – auch wenn ich deren Sinn bis heute mindestens infrage stelle. Aber es ist 2022 und der Aufschrei, der auf Raoufs Entscheidung folgte, erschien mir unverhältnismäßig laut. In Zeiten von Social Media und Bewegungen wie #bodypositivity begegnen mir tagtäglich ungeschminkte Gesichter. Auch unser Redaktionsteam diskutierte: Ist das wirklich eine Good News? Ist es noch zeitgemäß eine Frau dafür zu feiern, dass sie kein Make-up trägt? Unsere Antwort auf beide Fragen war damals ganz klar „Jein”. Deswegen schaue ich jetzt nochmal genauer auf den Begriff der Schönheit, was das Konzept mit uns macht und wie ihm die jüngste Generation begegnet – in unserem Good News Thought.

Zu groß, zu klein, zu dick, zu dünn

Schönheitsideale wandeln sich mit der Zeit, das ist jedem bekannt. Bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts gab es noch gar kein Make-up, zumindest nicht in der breiten Bevölkerung. Mit seiner Erfindung folgten auch Trends, von natürlich bis schrill und bunt. Ähnliches gilt für Mode, Haare und Körperformen. Je nach Epoche und Hemisphäre schwankt beispielsweise die als ideal betrachtete Taillenbreite einer Frau. Auch Männer sind von allerhand Idealen nicht verschont geblieben, doch um die Schönheit der Frau entstand eine ganze Industrie. Eine Industrie, die sich nicht nur nach den Trends richtet, sondern sie auch vorgibt. Und obwohl es bekannt ist, dass die Mode sich ändert und Schönheit relativ ist – an vielen Menschen geht der damit einhergehende Druck nicht vorbei. Druck, gut auszusehen. Denn wer nicht gut aussieht, der bleibt vermeintlich auf der Strecke. 

Wer jetzt meint, dass dieses Denken in Deutschland nicht so ausgeprägt sei, der irrt. Zufriedenheit mit der eigenen Figur und Attraktivität stehen auf Platz eins und drei der Aspekte, die deutschen Frauen Selbstsicherheit geben oder eben nehmen. Allein im ersten Halbjahr 2022 wurden hierzulande 6,8 Milliarden Euro Umsatz mit Schönheitspflegeprodukten gemacht. Zudem liegt Deutschland international auf Platz fünf der Länder mit der höchsten Anzahl an Schönheitsoperationen. Die beiden häufigsten Operationen sind Fettabsaugungen und Brustvergrößerungen – wir können uns also nicht mal entscheiden, ob wir zu viel oder zu wenig sind. 

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Hinzu kommt der Faktor Social Media. Es ist heutzutage so einfach wie nie, sich zu vergleichen. Auch sein eigenes Erscheinungsbild online anzupassen, ist kinderleicht. Das wiederum führt allerdings zu noch unrealistischeren Idealen, denen wir hinterherlaufen können. Dass die makellose Haut und die kleine Stupsnase Ergebnisse eines Filters sind, ist kaum noch zu erkennen. Das Resultat: Knapp ein Viertel der Schönheitsoperationen bei unter 20-Jährigen ist auf den Einfluss von Social Media zurückzuführen.

Doch zwischen all dem ist eine Tendenz zu erkennen, die vor allem von den jüngeren Generationen angetrieben wird und die Grund zur Hoffnung gibt, dass sich endlich wirklich etwas ändern könnte. Sie setzen sich für mehr Diversität auf allen Ebenen ein, sind kritisch gegenüber der medialen Darstellung von Schönheit und fordern beispielsweise die Kennzeichnung Gesichts-verändernder Filter (so wie es in Norwegen bereits ähnlich umgesetzt wird), um sich nicht in einer Scheinwelt zu verlieren. Schlussendlich bewerben sie ein Schönheitsideal, das allen Menschen gerecht wird: Sei so, wie du bist!

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Mehr Varianz in der Werbung, Bilder: Instagram / Hellobody, Hollister

Die Facetten der Schönheit

Auch wenn unsere westliche Gesellschaft diesbezüglich noch einen weiten Weg vor sich hat, so sind eben diese Tendenzen doch deutlich zu spüren. Diversität und Inklusion sind Trends, die es sich lohnt, zu verfolgen. Aufzuhalten sind sie jedenfalls zum Glück nicht mehr. Auf fragwürdige Entwicklungen wird sofort reagiert – wie aktuell die Reaktion von ​​Schauspielerin und Aktivistin Jameela Jamil auf die Frage nach einer Wiederkehr des „Heroin Chic” zeigt. Jemanden aufgrund seines Äußeren zu verurteilen ist out und das Konzept von Schönheit hat plötzlich schier endlose Facetten. Sogar Models zeigen deswegen endlich mehr Varianz; sie tragen plötzlich einige Kleidergrößen mehr, haben Tattoos, Narben oder sind weit jenseits der 20. Der Druck nach Diversität ist sogar so groß, dass sich ihm selbst Heidi Klum, die Mutter der übergriffigen Castingshows, beugen muss – auch wenn die Umsetzung definitiv verbesserungswürdig ist. 

Die Vielfalt des menschlichen Daseins scheint endlich normalisiert zu werden. Insbesondere Frauen sagen sich gemeinschaftlich los von den angestaubten Zwängen ihrer Vorgängergenerationen. Sie bestärken sich auf Social Media gegenseitig und ermutigen sich, ihr ganz eigenes Schönheitsideal zu verfolgen. Trag doch bauchfrei in Konfektionsgröße 50, zeig uns deine Achselhaare oder operier’ dir deine Nase, wenn du sie absolut nicht mehr sehen kannst. You do you, was auch immer das für dich bedeutet. 

Diese Einstellung ermöglicht uns Freiheiten, die wir vorher nicht hatten. Freiheiten im Kopf, vor allem. Wenn alles schön ist, dann ist es vielleicht auch nicht mehr so wichtig, macht es relativ. Junge Mädchen wachsen dann mit mehr Zielen auf, als schön zu sein. Und wenn sie sich doch für eine Karriere in der Beautyindustrie entscheiden, dann mit einer anderen Einstellung. Sie sind sich ihrer naturgegebenen Schönheit bewusst und tun einfach das, was vor kurzem noch undenkbar war: Sie treten bei der Misswahl ohne Make-up an, einfach so.

Beitragsbild: Pexels / cottonbro studio

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Julia Verstraelen

Ich liebe schon immer Worte und Sprache und studiere deswegen Online-Redaktion in Köln. Egal ob in Filmen, Gedichten oder Videospielen – gute Geschichten begeistern mich einfach. Umso besser natürlich, wenn die Geschichten auch noch eine schöne Message haben. Aus diesem Grund schreibe ich für das Good News Magazin: um die wirklich guten Stories erzählen zu können!

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